Stöckchen – Die #LaTdH vom 2. Oktober

Stöckchen – Die #LaTdH vom 2. Oktober

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Herzlich Willkommen!

„Nicht über jedes Stöckchen springen“, ist im Leben und in der Publizistik ein guter Ratschlag. Besonders wenn es um rechtspopulistische Sprache geht, muss man sich fragen, inwieweit man durch eine empörte Reaktion der Intention des Gesagten bereits entgegengeht. In der vergangenen Woche haben sich sowohl Kardinal Koch im Interview bei Martin Lohmann in der Tagespost über den Synodalen Weg (s. „nachgefasst“) als auch die Publizisten Richard David Precht und Harald Welzer in zahlreichen Interviews und Gesprächsrunden rund um das Thema Vertrauen in die Medien befleissigt, der kritischen Öffentlichkeit ganz viele Stöckchen hin zu halten. In beiden Fällen hat ihr Derailing funktioniert.

Denn wer provoziert, der bestimmt Anlass, Richtung und Niveau der Debatte – jedenfalls viel zu häufig. Gegen rechtspopulistische Sprache empfiehlt „Sprich es an“, ein kleiner Band von Diskursiv, „radikale Höflichkeit“. Man kann es natürlich auch mit Witzen versuchen. Bei Welzer und Precht funktioniert das aufgrund der immensen Eitelkeit der beiden hervorragend. Was Kochs Vergleich des Synodalen Weges – oder einer Gruppe von Teilnehmer:innen – mit den Deutschen Christen der Zeit des Nationalsozialismus angeht, sehen die so beschriebenen offenbar eine rote Linie überschritten: Statt Koch auszulachen, beklagen sie sich beim Chef in Rom.

Die Wikipedia empfiehlt ihren Mitarbeiter:innen, die sich gelegentlich über die Arbeit an dem großartigen Online-Lexikon fetzen, übrigens folgendes:

„Nicht über Stöckchen springen“ oder auch „nicht über jedes Stöckchen springen, das einem hingehalten wird“, ist ein wohlmeinender Ratschlag zur Deeskalation auf Diskussionsseiten. Dieser Satz bedeutet, dass es manchmal sinnvoller sein kann, nicht auf einen als provozierend empfundenen Diskussionsbeitrag zu antworten. Dadurch kann mitunter ein Abgleiten einer Diskussion auf unsachliche Nebenschauplätze vermieden werden. Gerade bei kontrovers geführten Debatten werden oftmals Emotionen erzeugt, die zu gegenseitiger Provokation der Diskussionsteilnehmer verleiten können. Gelassenheit ist dabei sehr hilfreich.

Wann ist Zeit für „radikale Höflichkeit“, wann gar für Deeskalation? Manchmal braucht es auf einen groben Klotz auch einen groben Keil. Nur das Heft des Handelns, das sollte man sich nicht aus der Hand nehmen lassen.

Viel Gelassenheit wünscht
Philipp Greifenstein

PS: In diesem Herbst machen wir wieder verstärkt auf die Eule-Abos aufmerksam: Heute was für morgen tun! Die #LaTdH und das Angebot der Eule werden von den Leser:innen selbst ermöglicht! Werden Sie Eule-Abonnent:in! Ab 3 € im Monat sind Sie dabei.


Debatte

Am heutigen Sonntag wählen die Bürger:innen Brasilien, nicht nur, aber auch einen neuen Präsidenten. Im ersten Wahlgang der Präsidentenwahl stehen sich u.a. der rechtsradikale Amtsinhaber Jair Bolsonaro und der Sozialdemokrat und ehemalige Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva gegenüber. Die Wahl ist eine Richtungsentscheidung über die Zukunfts des Landes. Und Christ:innen sind die wohl wichtigste Wähler:innengruppe. Um sie wird besonders heftig geworben.

Brasilien: Wahlkampf in Gottes Namen – Lisa Kuner (Die Eule)

Brasilien als „Schwellenland“ hat in den vergangenen 20 Jahren große Schritte unternommen, um zu den Industriestaaten des Westens aufzuschließen. Eine Entwicklung, die unter Bolsonaro zum Stillstand gekommen ist. Wie Lisa Kuner (@LiszKu) in ihrem Artikel über den Wahlkampf in dieser Woche hier in der Eule beschreibt, ist die Armut zurück im Land. Was in Brasilien geschieht, kann uns in Europa nicht kalt lassen, dafür ist das größte Land Südamerikas zu wichtig. Nicht zuletzt, weil sich in der Region auch entscheidet, wie wir Menschen Klimakrise und Artensterben begegnen. Und da haben auch wir unsere Hände im Spiel.

Mehr als 30 Prozent der Brasilianer und Brasilianerinnen gehören einer evangelikalen Glaubensgemeinschaft an, Tendenz steigend. Die meisten evangelikalen Kirchen im Land sind sogenannte Pfingstkirchen, […]. Während traditionell politisch vor allem die katholische Kirche eine große Rolle spielte, sind die evangelikalen Glaubensgemeinschaften seit Anfang der 2000er Jahre auch aktiv dabei, ihren gesellschaftlichen Einfluss auszubauen. Durchaus mit Erfolg: Mehr als 100 Abgeordnete und rund 15 Senatoren und Senatorinnen zählen sich zu den Evangelikalen, zusammen haben sie rund 20 Prozent der Stimmen im Parlament.

Bolsonaro zählt die Evangelikalen zu seinen Unterstützern. 2018 war er mit dem Wahlslogan „Brasilien über allem, Gott über allen“ angetreten und rund 70 Prozent der Evangelikalen haben für ihn abgestimmt. Die Wahlvorhersagen für dieses Jahr sind hingegen nicht eindeutig: Während die meisten evangelikalen Männer noch immer für Bolsonaro stimmen wollen, teilen sich die weiblichen Anhängerinnen der evangelikalen Kirchen in den Prognosen recht ebenmäßig zwischen ihm und Lula auf.

Lisa Kuner beschreibt in ihrem Artikel anhand von christlichen Influencer:innen, wie um evangelikale Wähler:innen geworben wird. Besonders um die Frauen, die anscheinend noch nicht so kulturkampf-besoffen wie viele Männer sind. Die Expertin Jaqueline Teixeira ist jedenfalls überzeugt: „Das evangelikale Publikum entscheidet die Wahlen“.

Die Eine-Millionen-Dollar-Frage der Pfingstler in Brasilien – Thorsten Dietz (Die Eule)

Weil die evangelikalen Pfingstler für Brasilien so wichtig sind und weil sie bei der politischen Radikalisierung von Christen weltweit eine bedeutende Rolle spielen, haben wir uns in der Eule in dieser Woche ihre Beweggründe und Haltungen noch ein weiteres Mal intensiv angeschaut. Der Theologe und Buchautor Thorsten Dietz (@DietzThorsten), bekannt u.a. vom „Das Wort und das Fleisch“-Podcast, erklärt, was die evangelikalen Pfingstler bewegt:

Vor allem für Südamerika stellt sich dabei eine Art Eine-Millionen-Dollar-Frage: Wie konnte es passieren, dass sich zwar die befreiungstheologischen Akteure der Katholischen Kirche mit ihrer „Option für die Armen“ für die Armen entschieden haben, viele Arme aber für die Pfingstkirchen?

Mir scheint, dass man den Erfolg von neo-pentekostalen (neu-pfingstlerischen) Kirchen und religiösen Unternehmen mit mehr als Theologie im Instrumentenkasten verstehen lernen muss. Die Religionssoziologie muss helfen, aber im Falle von Christen im „globalen Süden“ hilft sicher auch eine Prise post-koloniale Kritik. Jedenfalls entdecke ich in mancher berechtigter Kritik an den rechtsdriftenden evangelikalen Pfingstlern auch Motive einer westlich-aufgeklärten Überheblichkeit. Dietz erklärt zum Beispiel den rechten Kampf für „christliche Familienwerte“ so:

Religion als Stabilisierung sozialer Ordnungen, als ideelle Grundlage sozialer Disziplinierung mag aus liberaler Sicht repressiv erscheinen. Es gehört freilich auch zu den Privilegien liberaler Gesellschaften, instabile Familien höchstens als persönliches Leid und nicht als soziale Katastrophe erfahren zu müssen. In einer gefährlichen Welt ist die Anziehungskraft „heiler“ Familienwelten erheblich. Dass diese starke Betonung strikter Lebensordnungen massive Ausgrenzungen mit sich bringt, steht auf einem anderen Blatt.

Sowieso muss man den gegenwärtigen christlichen Rechtsradikalismus – insbesondere den neueren christlichen Nationalismus in den USA – als Krisenphänomen der christlichen Religion begreifen, will man sich mehr als aktivistisch mit ihm befassen. Natürlich braucht es klaren Widerspruch, aber im Sinne der „Stöckchen“-Dekonstruktion scheint mir eine solche Nachdenklichkeit doch sehr angebracht zu sein.

The Guardrails – Mit Ruth Graham und Albert Mohler Jr. („The Run-Up“, New York Times, 47 Minuten, englisch)

Im „The Run-Up“-Podcast der New York Times im Vorfeld der US-amerikanischen Midterm-Wahlen im November sprechen in dieser Woche deren Religionskorrespondentin Ruth Graham (@publicroad) und der Präsident des Theologischen Seminars der Southern Baptists in Louisville (Kentucky) über die Rolle des christlichen Nationalismus in den USA (Transkript hier). Auch ihre These lautet:

Why we can’t understand this moment in politics without first understanding the transformation of American evangelicalism.

Auch wenn Motive und Ideologiebestandteile der christlichen Rechten auch im deutschsprachigen Raum anzutreffen sind und auch hierzulande rechte Christen aktiv sind, dürfen die Unterschiede zu Brasilien und den USA nicht unter den Tisch fallen. Nicht, damit man sich gelassen zurücklehnen kann, sondern um eine passende Antwort zu finden. Denn: Rechtsradikale Christen arbeiten kontext- und milieusensibel.

Wachsende Risse in der evangelikalen Welt der USA – Thorsten Dietz und Martin Christian Hünerhoff (Das Wort und das Fleisch)

Ist diese Woche „Wort und Fleisch“-Woche in der Eule? Tja, manchmal läuft publizistisch so einiges zusammen. Am Montag besprach Frederik Ohlenbusch in der #abgehört-Kolumne noch den von Worthaus produzierten Podcast von Martin Christian Hünerhoff und Thorsten Dietz. Dann erklärte Dietz uns die evangelikalen Pfingstler in Brasilien (s.o.) – und zum Schluss dieser Debatte empfehle ich die neueste Folge des Podcasts, die sich mit aktuellen Fragen des US-Evangelikalismus befasst.

Dass es sich bei der Rechtskehre und Verschwörungsgläubigkeit von weißen Evangelikalen um ein Krisenphänomen des Evangelikalismus handelt, wird schon empirisch dadurch deutlich, dass es die aus der Entfernung so gleichtönende moderne Glaubensbewegung über dem Trumpismus geradezu zerreißt. Solche Sollbruchstellen muss man sich gut merken, will man etwas gegen den christlichen Rechtsradikalismus unternehmen.

Die größte Kirche in den USA, die Southern Baptists, schrumpft seit Jahren. Die Evangelische Allianz in den USA, die National Association of Evangelicals, verliert seit Jahren an Rückhalt im Evangelikalismus, weil sie sich dem Trend zur immer stärkeren Polarisierung widersetzt. Bekannte Stimmen des US-Evangelikalismus wie Timothy Keller sehen die Evangelikalen in einer schweren Krise. Wachsenden Risse zeigen sich überall: sie könnten ein Zeichen der Hoffnung sein.

nachgefasst

In die wahrhaft nicht kurze Liste der Kritiker:innen des Synodalen Weges von Deutscher Bischofskonferenz (DBK) und Zentralkomitee der Katholiken (ZdK) hat sich in dieser Woche der schweizerische Kurienkardinal Kurt Koch eingereiht. Der Mann ist für die Ökumenekontakte des Vatikans zuständig. Der Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen“ hat diese Woche allerdings entzweit.

In einem Interview in der Tagespost (s. hier in der Eule), das vom rechten Multiaktivisten Martin Lohmann (s. zuletzt hier in der Eule, aber auch hier) geführt wurde, kritisierte er, dass neben Schrift und Tradition auch die „Zeichen der Zeit“ von den Teilnehmer:innen des Synodalen Weges in den Rang einer Offenbarungsquelle gehoben würden.

[…] diese Erscheinung hat es bereits während der nationalsozialistischen Diktatur gegeben, als die so genannten „Deutschen Christen“ Gottes neue Offenbarung in Blut und Boden und im Aufstieg Hitlers gesehen haben.

Gegen diesen Nazivergleich verwahrte sich u.a. der DBK-Vorsitzende Bischof Georg Bätzing (Limburg), daraufhin erklärte – nicht entschuldigte! – Koch in einem weiteren Textchen, wie seine Entgleißung recht zu verstehen sei – drumherum gab es massive Aufregung in den katholischen und sozialen Medien. Bätzing fordert weiterhin eine Entschuldigung von Koch und Konsequenzen von Papst Franziskus, Koch selbst hat alle Deutschland-Termine abgesagt. Nachverfolgen lässt sich das ganze Geschehen z.B. bei kath.ch, dem Nachrichtenportal der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz.

Vatikanischer Nazi-Vergleich zeigt Angst vor Bedeutungsverlust – Markus Nolte (Kirche + Leben)

Zutreffend kommentiert Kirche + Leben-Chefredakteur Markus Nolte (@MarkusDNolte) die Vorgänge, wenngleich seine letzte Abzweckung mir zu kurz gegriffen erscheint.

Im November steht der turnusgemäße Besuch der deutschen Bischöfe im Vatikan an. Das dürften schwierigste Gespräche werden. Es steht viel, sehr viel auf dem Spiel. Weit mehr als der Synodale Weg. Unserer Bischöfe, oder besser: die große Mehrheit von ihnen hat jede Unterstützung verdient.

Innerhalb der Bischofskonferenz wird gestritten. Bei der Herbstvollversammlung in dieser Woche wurde das mehr als offensichtlich, schreibt Christoph Strack (@Strack_C) für die Deutsche Welle. Liberalen Geister wollen es da mit den Bischöfen halten, die zumindest den Willen zur Reform unter den Gläubigen akzeptieren. Aber besteht die Lösung ernstlich weiterhin darin, die Hoffnungen an die Bischöfe zu hängen?

Eigentlich scheint auch durch diese Diskussion die alte Frage durch, wie römisch der deutsche Katholizismus eigentlich zu bleiben vermag. Daniel Deckers rührt in seinem scharfen Kommentar in der FAZ an diese Frage, wenn er sich fragt:

Wenn es aber so schlimm steht, muss eine Frage erlaubt sein: Kann der Papst wirklich noch guten Gewissens die Dutzende Millionen Euro annehmen, mit denen ihn faschistoide Kryptoprotestanten aus Deutschland Jahr für Jahr alimentieren?

Währenddessen hat die Bischofskonferenz mit dem Aachener Bischof Helmut Dieser an der Spitze ihre Gremien für die Befassung mit dem Missbrauch in der Kirche neugeordnet, berichtet katholisch.de.

Ob aus dem ganzen Schlamassel nun etwas Gutes entsteht, sei es beim Besuch der deutschen Bischöfe bei Papst Franziskus in wenigen Wochen oder auf dem Synodalen Weg, wird man sehen. Nach dieser katholischen Nachrichtenwoche darf man daran zweifeln: Hat man das Ziel, eine sichere Kirche für alle Menschen zu werden, überhaupt noch im Blick? Oder geht es wirklich nur noch darum, mit möglichst viel Flurschaden die eigene Linie durchzusetzen?

Buntes

Ist das der Dank? Erntedank, Landwirtschaft und die Kirchen – Michael von Hollenbach, Florian Breitmeier („vertikal horizontal“, NDR, 35 Minuten)

In diesen Wochen wird in den Kirchen Erntedank gefeiert. Das ist in der Klimakrise kein Leichtes. Florian Breitmeier () und Michael von Hollenbach gehen dem Thema im „vertikal horizontal“-Podcast zu Glaubens- und Gewissensfragen des NDR umfassend nach. Es geht um unsere Ernährungsgewohnheiten, Folgen der Landwirtschaft für das Klima – und die Rolle der Kirche. Zu Wort kommt u.a. ein Mitarbeiter der Nordkirche (), der sich im Dienst in der Arbeitswelt mit Landwirt:innen und ihren Ansprüchen an die Kirche befasst. Und es geht auch um junge Landwirt:innen, die bei der katholischen Akademie ethische Orientierung suchen.

Nebenbei klären die Autor:innen über einen Streit der Landwirtschaft mit dem katholischen Hilfswerk Misereor auf, das im Verbund mit Greenpeace fordert: „Kein Essen in Trog und Tank“. Das schwierige Miteinander von Kirche und Landwirtschaft (s. Pachten!) wird ausführlich diskutiert. Ein sehr hörenswerter Podcast!

Evangelische Kirche will bis 2045 klimaneutral sein (Der Stern)

Unterdessen haben der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und die Kirchenkonferenz, also zwei der drei gemeinsamen kirchenleitenden Organe der evangelischen Kirchen in Deutschland, eine neue Klimaschutzrichtlinie beschlossen, mit der man sich noch weiter befassen werden wird müssen. Denn während einige wenige Landeskirchen bei dem Thema Tempo machen, gibt es auch jene, die bremsen: Dort sorgt man sich vor allem um die immensen Kosten, die der Weg zur Klimaneutralität für die Kirchen verursacht. Konflikte in den Gemeinden sind, nicht erst, aber besonders in diesem Energiekrisen-Winter, vorprogrammiert.

Ein guter Satz

Religion

via REL ::: Die Eule https://eulemagazin.de

October 2, 2022 at 09:07AM