Streit um Berufsethos von Lehrkräften: Jeden Schüler mitnehmen? „Ich bin ein Mensch und kein Zauberer!“

Streit um Berufsethos von Lehrkräften: Jeden Schüler mitnehmen? „Ich bin ein Mensch und kein Zauberer!“

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AUGSBURG. Brauchen Lehrkräfte einen „Sokratischen Eid, weil’s bei vielen mit dem Berufsethos hapert? Der Bildungsforscher Prof. Klaus Zierer hat die Diskussion angestoßen (wir berichteten) – allerdings bekommt er im Forum von News4teachers mächtig Gegenwind. Vor allem seine Behauptung, manche Lehrerinnen und Lehrer würden den Verweis auf schlechte Arbeitsbedingungen als „Totschlagargument nutzen, um sich Reformen zu verweigern, sorgt für Unmut. Exemplarisch bringen wir hier nochmal einen besonders lesenswerten Post von TheTeacher.

Was können Lehrkräfte realistischerweise in einem zumindest teilweise maroden Schulsystem leisten, ohne sich aufzuopfern? Illustration: Shutterstock

TheTeacher, 29.08.2022 um 21:18 Uhr

Grundsätzlich halte ich die Ansicht, sich und sein schulisches Handeln regelmäßig zu hinterfragen, ja durchaus gut. Mit der Zeit und Routine schleichen sich doch hier und da möglicherweise negative Verhaltensweisen ein, die man erkennen und wieder korrigieren muss. Einen Eid brauche ich jedoch dazu nicht und finde die die Sichtweise doch etwas vom hohen Ross der Forschung herab.

Wenn ich schon so einen pauschalen Satz lese wie, „dass kein Kind zurückgelassen werden soll, egal aus welchen Gründen“, dann bekomme ich aber Zweifel, wie realitätsnah Herr Zierer ist. Meine Zeit und meine Kraft sind der begrenzende Faktor, aber nicht meine Einstellung. Natürlich bemühe ich mich einen guten Kontakt zu allen Schülern zu haben und versuche alle zu motivieren, mitzuziehen und gestehe auch längere Schwächephasen zu, in der ich viel Energie aufwenden muss, um das komplette Absacken zu verhindern. Ich habe jedoch 30 Kinder in meiner Klasse und da steht jedem rechnerisch 3,3% meiner Kraft und Zeit zu. Manche Kinder erfordern aber 25% davon und da gibt es ja dann nicht nur einen davon. Das kann ich aber auf Dauer nicht leisten bzw. lasse ich ja dann wieder andere Kinder irgendwie zurück.

Wenn die Schüler und gleichzeitig Eltern nicht auf Dauer mitziehen, dann investiere ich alles für nichts

Wie soll das funktionieren? Wenn die Schüler und gleichzeitig Eltern nicht auf Dauer mitziehen, dann investiere ich alles für nichts. Da habe ich schon einige enttäuschende Erfahrungen gemacht und zu Beginn meiner Zeit als Lehrer bis fast in den Burnout versucht zu kitten, was ich nicht kitten konnte.

Wenn ich jetzt merke, dass meine Bemühungen über lange Zeit bei den Eltern und Schülern verpuffen und ich der einzige bin, den das Thema Lernen und Verhalten interessiert, dann setze ich mittlerweile irgendwann eine Grenze und formuliere das den Eltern und auch Schülern gegenüber ganz klar. Die Tür steht selbstverständlich an jedem Tag wieder offen und bin sofort bereit, zu helfen, aber da muss dann zuvor eine Leistung von den Eltern oder Schülern kommen. Da fehlt es häufig an externen Unterstützern, die solchen Kindern und Eltern dauerhaft unter die Arme greifen können, denn ich kann das im Gegensatz zu Herr Zierer leider nicht leisten.

Durch meine Veränderungen in der Handhabung solcher Situationen bin ich deutlich entspannter geworden und habe das Gefühl den anderen Schülern gegenüber endlich wieder gerechter geworden zu sein. Auch nicht auffällige oder problembelastete Kinder haben ein Recht auf meine Aufmerksamkeit und Unterstützung.

Die Aussagen: „Ich habe zu wenig Zeit… und die Klassen sind zu groß. Deshalb kann ich es nicht besser machen….“ und „Ob es die Reduzierung der Klassengröße von 30 auf 20 Lernende, die millionenschere Förderung der Digitalisierung… oder die Veränderung des mehrgliedrigen Schulsystems ist, immer bleibt der Erfolg dieser Maßnahmen aus, wenn die Lehrpersonen nicht dahinter stehen“ finde ich fast schon frech.

Meine Haltung ist nicht das Problem! Auf sonderschlaue Sprüche vom Turm der Forschung kann ich dabei gut verzichten

Wann wurden denn die Klassengrößen auf 20 Kinder vermindert? Wo wurde der Betrieb der digitalen Medien denn ausgelagert und die digitalen Medien in einem verlässlichen und einfach zu nutzendem Rahmen zur Verfügung gestellt? Inwieweit wurden die Lehrer in ihrer Arbeit unterstützt und entlastet, wenn man die volle Spanne bei 30 Kindern hat, die von „große Schwierigkeiten auch nur einfachste Sachverhalte zu verstehen und vom Lernstand mindestens ein Jahr zurückliegen“, bis hin zu „Befähigung Inhalte der nächsten Klassenstufe bearbeiten zu können?“ geht? Binnendifferenzierung ist aus meiner Sicht eine Megaaufgabe.

Ich bin bereit, viel zu investieren und auch sozusagen mal für eine gewisse Zeit in den „roten Bereich“ zu gehen. Meine Haltung ist nicht das Problem! Auf sonderschlaue Sprüche vom Turm der Forschung kann ich dabei gut verzichten. Ich bin ein Mensch und kein Zauberer! News4teachers

Hier geht es zum Beitrag „Berufsethos: Bildungsforscher Zierer verlangt Lehrkäften einen ‚Sokratischen Eid‘ ab“ – und dem dazugehörigen LeserInnenforum.

Leserposts

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August 30, 2022 at 10:32AM