Typologie der Grenzen

Zwölf verschiedene Arten von Zäunen kann man auf dem Gelände des Petersplatzes zählen.  Julia Hahn war zur Zeit der Weltsynode in Rom und denkt über die (un)sichtbaren Grenzen des Abschlusstextes nach.

Die Zäune des Petzersplatzes sind raue, beige, steinerne, metallene, niedrige, hohe, stangenartige oder in Kreuzmuster gebaute Grenzziehungen. Manche bilden eine Einheit und halten Menschen davon ab, einen bestimmten Weg zu gehen, manche stehen funktionslos im Nirgendwo. Sie geben Orientierung und Sicherheit, können aber auch verwirren, ausgrenzen und einsperren. Sie sperren etwas ab, versperren die Sicht, weisen auf etwas hin und übernehmen die Leitung. Sie schützen vor Eindringlingen und grenzen aus. Sie sind verrostet und morsch oder neu gebaut und lackiert.

Oktober 2024: Die zweite und letzte vierwöchige Synodalversammlung der von Papst Franziskus angestoßenen Weltsynode findet statt. Ich bin im Rahmen einer universitären Exkursion in Rom, um Synodalität am Ort des Geschehens zu erkunden. Dass hier und jetzt etwas – zumindest in der katholischen Bubble – Bahnbrechendes passiert oder passieren könnte, ist auf dem Petersplatz nicht zu erahnen, weil nahezu nichts dort auf das kirchliche Großevent „Weltsynode“ hinweist. Angelehnt an die Verschiedenheit der sichtbaren Grenzen und in Verbindung mit dem Abschlussdokument der Weltsynode1 ist hier eine Auswahl an Themen, die kirchliche Grenzziehung, aber auch Prozesse der Renovierung und des Einreißens symbolisieren:

I: Repräsentation

Die Beteiligten der drei Phasen der Weltsynode und vor allem der Synodalversammlung repräsentieren nur einen kleinen Bruchteil aller Katholik:innen. Der Gap wurde für eine kurze Zeit für wenige Menschen überbrückt. Die temporäre Brücke gilt es langfristig zu erhalten.

II: Partizipation

Das Abschlussdokument formuliert den Willen der stärkeren „Beteiligung des gesamten Volkes Gottes an Entscheidungsprozessen“ (87) sowie der Förderung der Partizipation von Frauen, jungen Menschen und Menschen am Rande der Gesellschaft (vgl. 106). Der Abbau der Grenzen zwischen Klerus und Lai:innen ist im Prozess.

III: Macht und Autorität

Die gesellschaftliche Anerkennung kirchlicher Autorität ist porös. Die Weltsynode definiert Autorität im Sinne eines Dienstes an der Gemeinschaft (vgl. 91). Zugleich bleibt sie unkonkret und konterkariert im Rahmen der Definitionsmacht die Begründung der Entscheidungsgewalt der Bischöfe durch ihre gegebene Autorität und Hierarchie (vgl. 92). Es braucht einen neuen Kitt, um Authentizität und Glaubhaftigkeit wiederherzustellen.

IV: Klerikalismus

Im Abschlussdokument wird für Priester zumeist der Begriff der „Hirten“ in positiver Konnotation verwendet. Erst im Abschnitt über Klerikalismus wird dieser kritisch reflektiert: „Der Klerikalismus basiert auf der stillschweigenden Annahme, dass diejenigen, die in der Kirche Autorität besitzen, nicht für ihre Handlungen und Entscheidungen zur Rechenschaft gezogen werden dürfen, als wären sie vom Rest des Volkes Gottes isoliert oder stünden über ihm“ (98). 

V: Definitionsmacht und Entscheidungsgewalt

Die zentrale Methode der Weltsynode ist das „Gespräch im Geist“. Grundsätzlich existieren ein spezifischer Fokus und starkes Vertrauen auf die Stimme des Heiligen Geistes, die es zu hören gelte und durch die zu Erkenntnis gelangt werden könne. Vor allem Klerikern wird aufgrund der Eingebungen des Geistes Entscheidungsbefugnis und damit Macht und Autorität zugeschrieben und anerkannt. Doch wie erkennt und definiert man, was Heilige Geisteskraft ist und was nicht?

VI: (In)Transparenz

Es ist nicht ersichtlich, wie die Synodalen ausgewählt wurden und es war vor und während der Versammlungen nicht öffentlich bekannt, mit welchen konkreten Inhalten diese sich beschäftigen. Pressearbeit war bedingt möglich. Was auf den Hinterbühnen passierte, blieb intransparent. Transparenz wird als „grundlegende Haltung, die in den Heiligen Schriften verankert ist“ (96), die das „Vertrauen und die Glaubwürdigkeit“ (97) schützt, definiert. Der „Geist der Transparenz“ (vgl. 95), der von „Wahrheit, Loyalität, Klarheit, Ehrlichkeit, Integrität, Beständigkeit; Ablehnung von Undurchsichtigkeit, Heuchelei und Zweideutigkeit; und Abwesenheit von Hintergedanken“ (vgl. 96) geprägt sein soll, muss noch einige Hürden überwinden, um voll und ganz zur Entfaltung zu gelangen. 

VII: Feminismus und Basisgemeinschaft

Die Weltsynode wird schon jetzt vielerlei als großer Fortschritt in der Geschichte der katholischen Kirche gedeutet, mitunter deshalb, weil zum ersten Mal Frauen und Lai:innen als Synodale dabei sein durften und der Prozess geprägt war vom gegenseitigen Zuhören, welches durch die diözesane und kontinentale Phase im Vorfeld der beiden Generalversammlungen auch einen Fokus auf die „Basis“ haben sollte. Maria wird althergebracht als weibliches Vorbild benannt: „Von ihr lernen wir die Kunst des Zuhörens, die Aufmerksamkeit für den Willen Gottes, den Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes und die Bereitschaft, die Bedürfnisse der Armen zu hören und uns auf den Weg zu machen“ (29). Dass auch diese Fokussierung auf vermeintlich natürlich gegebene weibliche Attribute das Leid und den Schmerz (vgl. 52) vieler FLINTA* symbolisieren, bedarf es kritisch zu reflektieren.

VIII: Zwischen Tradition und Reform

Die Notwendigkeit von Veränderungen wird anerkannt: „Ohne konkrete kurzfristige Veränderungen wird die Vision einer synodalen Kirche nicht glaubwürdig sein […]“ (94). Es bleibt dennoch ein Balanceakt zwischen dem, was es zu erhalten gilt, und dem, was der Reform bedarf.

IX: Positive Differenz zwischen kirchlicher Haltung und ausbeuterischem Kapitalismus

„Genauso zerstörerisch ist der Glaube, dass die gesamte Schöpfung, und dazu gehören auch die Menschen selbst, nach Belieben für Profit ausgebeutet werden kann. […] Dies sind Ungleichheiten wie zwischen Männern und Frauen, rassistische Vorurteile, Kastentrennung, Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, Verletzung der Rechte von Minderheiten aller Art und die mangelnde Bereitschaft, Migranten aufzunehmen“ (54). Die Abgrenzung von (kapitalistisch bedingten) Ungerechtigkeiten und Leid, welche vor allem nicht-privilegierte Menschen zu spüren bekommen, kann durch das Potential und die Ressourcen von Kirche zu einer friedvolleren Gesellschaft verhelfen.

X: Krieg und Frieden

Kirche, und das wird im Abschlussdokument der Weltsynode sichtbar, kann und sollte als Konterpart von Ausbeutung, Krieg, Unfrieden, Hass agieren und zu mehr Miteinander, Wertschätzung, Zugewandtheit und damit Frieden beitragen. Sie reißt Mauern des Starrsinns, der Rachsucht und der Verbissenheit ein und kann ein Ort für Dialog sein – an manchen Stellen gar eine Art safer space.

XI: Sichtbarkeit

(Intransparente) Hürden müssen sichtbar gemacht und schließlich kritisch in Bezug auf ihre Sinnhaftigkeit und Gerechtigkeit hinterfragt werden. Ebenso von Bedeutung ist die Sichtbarmachung von Menschen, vor allem der Menschen, die durch die Synodalen nicht repräsentiert werden. Das Abschlussdokument beruft sich darauf, dass Gott sich durch den „Schrei der Armen“ (vgl. 83) offenbaren würde und dass die Armen, Ausgeschlossenen und Ausgegrenzten im Mittelpunkt der Kirche stünden. In ihnen soll Christus erkannt werden (vgl. 19).

XII: Beziehungen

Es wird das Bestreben beschrieben, „ein Netzwerk von Beziehungen zu sein, das prophetisch eine Kultur der Begegnung, der sozialen Gerechtigkeit, der Inklusion der Ausgegrenzten, der Gemeinschaft unter den Völkern und der Sorge für die Erde, unser gemeinsames Zuhause, verbreitet und fördert“ (121). Durch Beziehungen können zwischenmenschliche und damit vielleicht auch gesellschaftliche Grenzen aufgeweicht und überschritten werden.

Baustelle Kirche

Baustellen brauchen Zeit und Werkzeuge. Die Weltsynode hat in einigen Bereichen etwas angestoßen und in Bewegung gebracht. In anderen braucht es die Zeit und das Mitwirken aller, um bestehende Hürden zwischen der frohen Botschaft und kirchlichem Handeln zu überwinden. So können die zwölf Grenzen auf diejenigen minimiert werden, die für das gute Leben aller hilfreich und wertvoll sein können.

 

Hashtag der Woche: #Grenze


(Beitragsbild: Theo)

[1] Zitate aus dem Abschlussdokument sind mit der jeweiligen Nummer versehen und beziehen sich auf das öffentlich einsehbare Dokument auf: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2024/Weltsynode-Abschlussdokument.pdf (zuletzt abgerufen am: 14.01.2025).

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Date: February 3, 2025 at 07:06AM
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