BERLIN. Rund eine Viertelmillion Jugendliche beginnen jedes Jahr staatlich geförderte Maßnahmen mit Praktika in Betrieben oder Qualifizierungskursen, weil sie nach der Schule keinen Ausbildungsplatz finden. Gleichzeitig werden Auszubildende von Unternehmen händeringend gesucht. Was läuft da schief? Ein Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der KMK zeigt auf: Es hapert an grundlegenden Kompetenzen, mangelnder Berufsorientierung und fehlender Unterstützung bei der Identitätsentwicklung. Die Empfehlungen gehen ans Eingemachte.

„Der Übergangssektor steht wie kein anderer Bildungsbereich für die Schwierigkeiten junger Menschen, von der Schule in eine berufliche Ausbildung zu wechseln. In den letzten zehn Jahren mündeten jährlich ca. 250.000 junge Menschen dort ein, was rund einem Viertel aller Neuzugänge im beruflichen Bereich entspricht, gleichzeitig gibt es immer mehr unbesetzte Ausbildungsplätze. Es ist wichtig, hier anzusetzen und gerade Jugendliche mit längerfristigem Unterstützungsbedarf in den Blick zu nehmen“, sagt Susanne Seeber, Professorin für Wirtschaftspädagogik und Personalentwicklung an der Georg-August-Universität Göttingen – und Mitglied in der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der KMK.
Die SWK hat in einem Gutachten nun in den Blick genommen, was es für einen erfolgreichen Übergang von der Sekundarstufe I in die berufliche Ausbildung braucht – und woran dieser zu oft scheitert. Dabei machen die Forscherinnen und Forscher drei Problembereiche aus: dass, erstens, zu viele Schülerinnen und Schüler die Mindeststandards nicht erreichen, dass, zweitens, Schule ihrer erzieherischen Verantwortung nicht ausreichend nachkommt und dass, drittens, die Berufsorientierung an Schulen zu Wünschen übrig lässt.
„Bildungsstandards und Lehrpläne heben basale und unverzichtbare funktionale Kompetenzen nicht ausreichend hervor“
Punkt eins: „Die Ursachen für den hohen Anteil junger Menschen, die die Mindeststandards in den funktionalen Kompetenzen nicht erreichen, sind vielfältig“, so schreiben die Autorinnen und Autoren des Gutachtens. „Bildungsstandards und Lehrpläne heben basale und unverzichtbare funktionale Kompetenzen nicht ausreichend hervor, sodass diese Vorgaben zu wenig Hinweise für Priorisierungen im Unterricht geben und die Abstimmung zwischen Lehrplänen, Prüfungen, unterrichtsbegleitender Diagnostik und Lehrmitteln (Constructive Alignment) zu wenig gewährleistet ist.“
Zudem würden Qualitätsmerkmale eines effektiven Fachunterrichts insbesondere in Schulen in herausfordernden Lagen noch zu wenig umgesetzt. „Unterricht sollte für alle Lernenden so kognitiv und sprachlich aktivierend sowie lernunterstützend sein, dass sie nicht nur träges Wissen und isolierte Fertigkeiten, sondern auch anwendbare Kompetenzen entwickeln. Dazu ist eine stärkere Orientierung des Unterrichts an gesellschaftlich relevanten Kontexten in authentischen Problemsituationen notwendig, die auch für Lernende im unteren Leistungsbereich zugänglich gestaltet werden können“, so heißt es.
Nationale und internationale Studien belegen den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zufolge, „dass durch eine gezielte Förderung die basalen und unverzichtbaren funktionalen Kompetenzen sowie das selbstregulierte Lernen substanziell verbessert werden können, sodass auch Jugendliche mit ungünstigen Lernvoraussetzungen die Mindeststandards erreichen und fachbezogene Interessen stabilisieren.“
Dabei hätten sich „lernstandsadaptive kombinierte Unterrichtsorganisationsmodelle“ bewährt, „die eine hohe Unterrichtsqualität für alle Jugendlichen mit fokussierten additiven Förderangeboten für Lernende mit spezifischen Lücken oder besonderen Unterstützungsbedarfen (z. B. in der Bildungssprache, den Aneignungsstrategien oder der Selbstregulation) kombinieren. Bei lückenhaften basalen Kompetenzen müssen diese aufgearbeitet werden, um zunächst die Anschlussfähigkeit für das Weiter lernen vor weiterführenden Kompetenzen sicherzustellen.“ Digitale Technologien könnten Lehrkräfte dabei unterstützen, „die anspruchsvolle Aufgabe einer adaptiven, diagnosebasierten Förderung zu realisieren und so der großen Heterogenität in den Lernvoraussetzungen gerecht zu werden“ – individuelle Diagnosetests inklusive.
„Schule in ihrer erzieherischen Funktion muss sich dieser Entwicklungsaufgaben bewusst sein und die Jugendlichen bei der Bewältigung unterstützen“
Darüber hinaus, Punkt zwei, hapert es der Kommission zufolge dabei, die Jugendlichen bei ihrer Identitätsfindung zu unterstützen. „Die Ausbildung einer eigenen Identität und die Einfädelung in eine berufliche Erstausbildung stellen zentrale Entwicklungsaufgaben des Jugendalters dar. Schule in ihrer erzieherischen Funktion muss sich dieser Entwicklungsaufgaben bewusst sein und die Jugendlichen bei der Bewältigung unterstützen“, so heißt es in dem Papier.
Und weiter: „Gut auf den Übergang in die berufliche Erstausbildung vorbereitete Jugendliche zeichnen sich durch folgende Merkmale aus: Sie haben positive und für sie wichtige, auf die akademische oder berufliche Domäne bezogene Identitäten, z. B. über die Zugehörigkeit zur eigenen Schule oder Ausbildungsstätte oder zur Gruppe der lernmotivierten Schüler:innen. Sie wissen, dass Lehrkräfte und Ausbilder:innen in sie Vertrauen setzen und ihnen ein hohes Lern- und Entwicklungspotenzial zuschreiben. Sie haben positive und realistische, auf die eigene Bildungsbiografie und Berufstätigkeit bezogene Zukunftsidentitäten. Ziel muss es sein, die Jugendlichen in ihrer Identitätsentwicklung, der Auswahl und Anpassung von Bildungs- und Berufszielen sowie bei der Entwicklung eines Bündels von Strategien zur Zielverfolgung und Zielerreichung zu unterstützen, damit der Übertritt in eine qualifizierte Ausbildung gelingt.“
Dabei hätten sich Maßnahmen bewährt, „die positive Intergruppenbeziehungen fördern und die durch einen wertschätzenden Umgang das Passungserleben zwischen sozialer Identität und Schule bzw. Ausbildungsplatz erhöhen. Auch strukturierte evidenzbasierte Programme ermöglichen es, die Jugendlichen bei der Entwicklung positiver Zukunftsentwürfe zu unterstützen.“ Daran sollten neben Lehrkräften und Ausbilder:innen auch sozialpädagogische Fachkräfte des Ganztags und der Schulsozialarbeit beteiligt sein.
„Die Unzulänglichkeit der bisherigen Berufsorientierungspraxis zeigt sich darin, dass viele junge Menschen hinsichtlich ihrer beruflichen Zukunft unsicher und ziellos sind“
Last but not least: die Berufsorientierung (Punkt drei). „Der Institutionalisierungsprozess schulischer Berufsorientierung ist formal weit fortgeschritten. Es gibt flankierende Landes- und Bundesprogramme und ein breites, jedoch sehr unübersichtliches außerschulisches Akteursfeld.“ Großes Aber: „Länderspezifische Vorgaben sowie systeminterne Unterstützungsstrukturen für schulische Berufsorientierung variieren jedoch erheblich und es fehlt an systematischen Prozessen der Qualitätssicherung. Die Unzulänglichkeit der bisherigen Berufsorientierungspraxis zeigt sich darin, dass viele junge Menschen am Ende der Sekundarstufe I hinsichtlich ihrer beruflichen Zukunft unsicher und ziellos sind. Das Spektrum der geäußerten Berufswünsche ist beschränkt, genderspezifisch segregiert und wenig auf den Wandel in der Arbeitswelt ausgerichtet.“
Jugendliche mit einem besonders hohen Informations-, Beratungs- und Unterstützungsbedarf würden nicht frühzeitig identifiziert und ausreichend individuell gefördert. Im Wortlaut: „Gerade sozial und kulturell benachteiligte Jugendliche wie auch Schüler:innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf sind mit besonderen Herausforderungen beim Übergang in die Berufsausbildung konfrontiert. Insgesamt wünscht sich ein Großteil der Schüler:innen mehr Unterstützung von der Schule. Eine reflektierte Berufswahlentscheidung reduziert die Abbruchwahrscheinlichkeit einer Ausbildung.“ Und:„Für die Qualitätsentwicklung schulischer Berufsorientierung ist die Professionalisierung des Personals der entscheidende Faktor. Lehrkräfte bescheinigen sich aber nur mäßige Kompetenz in der schulischen Berufsorientierung. In vielen Ländern sind keine spezifischen schulischen Funktionsprofile für Berufsorientierung definiert.“
Was tun? Die SWK spricht im Wesentlichen die folgenden sechs Empfehlungen aus:
- klare Definition der unverzichtbaren funktionalen Kompetenzen am Ende der Sekundarstufe I und damit verbunden die Ausarbeitung der dafür notwendigen Voraussetzungen beispielsweise in Form basaler Kompetenzen;
- Verankerung der unverzichtbaren funktionalen Kompetenzen und ihrer Voraussetzungen in Lehrplänen, Lernstandserhebungen und zentralen Abschlussprüfungen;
- regelmäßiges Erfassen der basalen und funktionalen Kompetenzstände der Schüler:innen (mindestens alle zwei Jahre); Weiterentwicklung des Fachunterrichts zur Erreichung der basalen und funktionalen Kompetenzen, dabei insbesondere auch unter Ausloten der Potenziale digitaler Tools;
- systematische Förderung der Schüler:innen im unteren Leistungsbereich durch klug vorstrukturierte, unterrichtsintegrierte und additive Förderangebote mit hoher didaktischer Treffsicherheit;
- Implementation des Konzepts der basalen und funktionalen Kompetenzen in die drei Phasen der Lehrkräftebildung; kombiniert mit der Vermittlung moderner Unterrichtskonzepte, die die Erreichung der basalen und funktionalen Kompetenzen erlauben.
„Jugendliche benötigen in Ausbildung und Gesellschaft flexibel anwendbare fachliche und überfachliche Fähigkeiten, mit denen sie berufliche Situationen strukturieren können“, sagt Susanne Prediger, SWK-Mitglied und Professorin für Fachdidaktik an der TU Dortmund.
Sie betont: „In Mathematik zum Beispiel erfordert der Umgang mit komplexeren und unvertrauten Situationen nicht nur isolierte Rechenfertigkeiten, sondern auch basales Verständnis und elementare Problemlösekompetenzen. Gerade für leistungsschwächere Jugendliche werden jedoch häufig falsche Prioritäten gesetzt. In Zukunft sollten Lehrkräfte, Schulbuchschreibende und Prüfungskommissionen stets vor Augen haben, was das Allerwichtigste ist. Deshalb empfehlen wir, in den Lehrplänen und Prüfungen die basalen und unverzichtbaren funktionalen Kompetenzen explizit auszuweisen und dafür reichhaltige Lerngelegenheiten zu schaffen.“ News4teachers
Hier lässt sich das vollständige Gutachten herunterladen.
Der Beitrag Verloren im Übergang: Warum der Weg von der Schule in die Ausbildung zu oft scheitert – KMK-Kommission legt Gutachten vor erschien zuerst auf News4teachers.
Title: Verloren im Übergang: Warum der Weg von der Schule in die Ausbildung zu oft scheitert – KMK-Kommission legt Gutachten vor
URL: https://www.news4teachers.de/2025/04/verloren-im-uebergang-warum-der-weg-von-der-schule-in-die-ausbildung-zu-oft-scheitert-kmk-kommission-legt-gutachten-vor/
Source: News4teachers
Source URL: https://www.news4teachers.de/
Date: April 9, 2025 at 06:01AM
Feedly Board(s): Schule