Von Erich Kästner über Albert Schweitzer bis zum Drogeriemarkt. Warum Entscheidungs- und Dilemma-Geschichten für das ethische Lernen wichtig sind.

Horst Heller
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Wohin bitte soll ich fahren? Nach rechts oder nach links? Geht es links in die Kreisstadt? Muss ich dennoch rechts abbiegen? Welcher Weg führt mich zum Ziel? Was ist gut, was ist böse? Wenn es nur immer so einfach wäre …

Kürzlich hörte ich es wieder: Warum in einer staatlichen Schule Religionsunterricht stattfinden soll? Weil er die Werte vermittelt, die unsere Gesellschaft braucht. Im Religionsunterricht können Solidarität und Gemeinsinn, Ehrlichkeit und Friedfertigkeit thematisiert und eingeübt werden.

So wird der Religionsunterricht oft legitimiert. Mir liegt der Zusammenhalt unserer Gesellschaft ebenfalls sehr am Herzen. Ich möchte, dass er dazu etwas beitragen kann. Zweifellos ist es wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler erkennen, für welche Werte die Lehrperson steht und wie sie sie lebt. Doch ganz so einfach ist es ist. Denn Bildung funktioniert anders. Schülerinnen und Schüler übernehmen nicht einfach die Einstellungen, die die Lehrpersonen für sie ausgewählt hat.

Das ethische Lernen muss also einen didaktischen Umweg gehen. Hier kommen die Entscheidungs- und Dilemma-Geschichten ins Spiel.

Was sind Entscheidungsgeschichten?

In der frühen Kindheit bedeutet gut zu handeln, die Gebote der Eltern oder der Schule zu erfüllen und Verbotenes zu unterlassen. „Wir dürfen das nicht!“ ist in dieser Phase ein überzeugendes Argument. Ein erster Schritt ethischer Bildung erarbeitet nun aber die Einsicht, dass es zum guten Handeln oft eine Alternative gibt. Manchmal ist es also erforderlich, sich für das Gute zu entscheiden. Das muss kein quälender Prozess sein. Aber es bedarf einer Reflexion, eines Nachdenkens, vielleicht auch eines Gespräch mit anderen.

Erich Kästner hat in seinem Kinderroman Emil und die Detektive (1929) eine Entscheidungsgeschichte erzählt.

Emil ist ein Kind aus Neustadt: Allein fährt er mit dem Zug zu seiner Großmutter nach Berlin. Seine Mutter hat ihm 140 Mark mitgegeben und die drei Scheine mit einer Nadel in seiner Jackentasche befestigt. Er soll sie seiner Großmutter überbringen und darf sie nicht verlieren. Auf der langen Reise wird er aber müde, die Augen fallen ihm zu. Als er kurz vor Berlin erwacht, ist das Geld verschwunden. Er ist bestohlen worden! Sein Verdacht fällt auf den merkwürdigen Mitreisenden mit einem steifen Hut, der inzwischen das Abteil verlassen hat. Sitzt er noch im Zug? Am Bahnhof Zoo sieht er aus dem Fenster den Mann mit Melone auf dem Bahnsteig. Nun ist er sich sicher. Er ergreift seinen Koffer, steigt ebenfalls aus und heftet er sich an seine Spuren. In der Großstadt findet er schnell Jungen, die ihm helfen wollen, dem Dieb das gestohlene Geld wieder abzuluchsen. Einer von ihnen ist Traugott. Aber welche Mittel sind erlaubt, welche nicht? Traugott hat eine Idee:

„Wir werden ganz einfach die Gelegenheit abpassen und ihm das Geld, das er geklaut hat, wieder klauen!“ „Quatsch!“ erklärte der [Junge mit der Hornbrille, den sie] Professor [nannten]. „Wenn wir ihm das Geld klauen, sind wir ganz genau solche Diebe, wie er selber einer ist!“ „Werde bloß nicht drollig!“ rief Traugott. „Wenn mir jemand was stiehlt, und ich stehl‘s ihm wieder, bin ich doch kein Dieb!“ „Doch, dann bist du ein Dieb“, behauptete der Professor.
Erich Kästner, Emil und die Detektive, Atrium Verlag, S. 99 (Online-Quelle)

Der Dialog der beiden Kinderdetektive ist eine Entscheidungsgeschichte. Emil soll sein Geld wiederbekommen. Aber wie? Im Unterricht sind die Schülerinnen und Schüler eingeladen, über den guten Weg zum Ziel nachzudenken. Bei Kästner entscheiden sich die Nachwuchs-Detektive gegen Traugott und für den „Professor“. Emils Diskussionsbeitrag gibt den Ausschlag:

„Der Professor hat sicher recht“, griff Emil ein. „Wenn ich jemandem heimlich was wegnehme, bin ich ein Dieb. Ob es ihm gehört, oder ob er es mir erst gestohlen hat, ist egal.“
Erich Kästner, Emil und die Detektive, Atrium Verlag, S. 99 (Online-Quelle)

Es kommt weniger darauf an, wie sich die Lerngruppe entscheidet. Wichtiger ist es, die Argumente zu wägen: Heiligt der gute Zweck die Mittel? Und wenn nicht, was ist, wenn ihnen der Dieb entkommt, weil sie zu anständig sind?

Entscheidungsgeschichten, die das Leben schreibt

Entscheidungsgeschichten gibt es auch für Erwachsene. Wir erleben sie täglich. Im Jahr 2011 hatte die evangelischen Fastenaktion Sieben Wochen ohne das Motto gewählt Sieben Wochen ohne Ausreden. Ich fühlte mich herausgefordert. Ich dachte nach, bei welchen Gelegenheiten sich eine vermeintlich kleine Unwahrheit oder eine Halbwahrheit anbieten, um gut aus einer Sache herauszukommen.

Wenn ich zu spät zu einem Termin komme, habe ich die Wahl. Ich kann sagen „Es war total viel Verkehr.“ oder „Ich stand im Stau.“ Vielleicht ist es ja nicht einmal gelogen, aber mehr Wahrheit läge in dem schlichten Eingeständnis: „Ich bin zu spät losgefahren.“

Wenn ich einen versprochenen Rückruf nicht getätigt habe, kann ich Zuflucht zu einer Ausrede nehmen: „Ich musste unbedingt noch einen Beitrag schreiben.“ Ich könnte aber auch einfach sagen: „Tut mir Leid, ich hab’s vergessen.“

Was sind Dilemma-Geschichten?

Dilemma-Geschichten gelten als besonders förderlich für die Ausbildung der ethischen Urteilsfähigkeit. Eine Dilemma-Geschichte ist eine Entscheidungsgeschichte, in der Gut und Böse gut gemischt sind. Beide Entscheidungsmöglichkeiten sind unbefriedigend. Dilemma-Geschichten entfalten narrativ die Schwierigkeit eines schwer zu entscheidenden ethischen Konflikts.

Dilemma-Geschichten gibt es für jedes Alter

In der Schuleingangsstufe (1./2. Schuljahr):
Emma überlegt, ob sie ihre traurige Mitschülerin nach der Betreuung nach Hause begleiten soll. Ihre Freundin hat geweint. Wenn sie aber mit ihr nach Hause läuft, wird ihre Mama böse sein. Sie hat Emma nämlich angewiesen, unverzüglich nach Hause zu kommen, denn sie müssen am Nachmittag noch einkaufen. Wie soll Emma sich entscheiden? Sie hat in jedem Fall ein schlechtes Gewissen, entweder gegenüber ihrer Freundin oder gegenüber ihrer Mutter.

Eine berühmte Dilemma-Geschichte aus seiner Kindheit erzählt Albert Schweitzer in seinen Lebenserinnerungen.

Sein Freund Heinrich Bräsch holte ihn an einem frühen Sonntagmorgen ab. Er hatte eine Steinschleuder mit Gummischnüren mitgebracht und wollte zusammen mit Albert im Weinberg ihres elsässischen Heimatorts Vögel schießen.

Dieser Vorschlag war mir schrecklich, schreibt Schweitzer in der ersten seiner beiden Autobiografien, aber ich wagte nicht zu widersprechen, aus Angst er könnte mich auslachen. So kamen wir in die Nähe eines kahlen Baumes, auf dem die Vögel, ohne sich vor uns zu fürchten, lieblich in den Morgen hinaus sangen. Sich wie ein jagender Indianer duckend, legte mein Begleiter einen Kiesel in die Schleuder und spannte sie. Seinem gebieterischen Blicke gehorchend, tat ich unter furchtbaren Gewissensbissen dasselbe, mir fest gelobend, daneben zu schießen.“
Albert Schweitzer, Aus meiner Kindheit und Jugend, München 1924, (Online-Quelle)

Einerseits hat Albert Respekt vor dem Leben und der Unversehrtheit der Vögel, andererseits ist da in ihm die Angst, von seinem Freund ausgelacht zu werden. Heute, über hundert Jahre nach dieser Episode aus der Kindheit des Nobelpreisträgers, fällt es Schülerinnen und Schülern nicht mehr so schwer, zu entscheiden, was in dieser Situation gut und richtig ist. Sie sind sich schnell einig: Es ist böse, aus Spaß auf Vögel zu schießen, sie zu verletzten oder gar zu töten. Es ist gut, andere daran zu hindern. Der acht- oder neunjährige Albert quälte sich mit der Entscheidung. Erst die Kirchenglocken halfen ihm, das Dilemma aufzulösen. Das Morgengeläut machte ihm klar, was wirklich zählte. Er sprang auf, verscheuchte die Vögel und rannte nach Hause.

Von jenem Tage an habe ich gewagt, mich von der Menschenfurcht zu befreien. Wo meine innerste Überzeugung mit im Spiele war, gab ich jetzt auf die Meinung anderer weniger als vorher. Die Scheu vor dem Ausgelachtwerden durch die Kameraden suchte ich zu verlernen.

Eine andere Erzählung (die keinen literarischen Wert beansprucht) erzählt von einem echten Dilemma.

Nora ist mit ihrer Freundin in einem Drogeriemarkt. Eigentlich wollen sie sich nur umschauen, doch dann entschließt sich ihre Freundin, eine Lipgloss aus dem Regal zu nehmen. Sie steckt es in die Tasche ihre Pullovers. Zusammen gehen die Freundinnen zum Ausgang. Doch dort stellt sich heraus, dass sie beobachtet worden sind. Ihrer Freundin gelingt es, in die Fußgängerzone zu entkommen. Doch Nora wird ins Büro der Geschäftsführerin komplimentiert. Sie selbst hat nichts gestohlen, versichert sie. „Aber deine Freundin schon“, erwidert die Geschäftsführerin. „Sag mir, wie sie heißt.“

Drei Dilemma-Geschichten für Erwachsene

Soll es einem Arzt erlaubt sein, für einen Patienten ein Medikament zu besorgen, das es diesem ermöglicht, sein Leben durch Suizid zu beenden? Die Werte, die einander widersprechen sind das Recht des Patienten auf ein würdevolles und selbstbestimmtes Sterben – und die Verpflichtung des Arztes, jedes Leben zu schützen und zu bewahren.

Ist es gestattet oder gar geboten, einem Land wie der Ukraine, die von einem hochgerüsteten Nachbarstaat mit Krieg überzogen wird, Waffenhilfe zu leisten? Die Werte, die einander widersprechen, sind die Pflicht zur Hilfeleistung für einen Unterlegenen gegen die Gewalt eines übermächtigen Gegners – und die Einsicht, dass auch die gelieferten Waffen töten werden.

Die Beratung eines schwierigen Dilemmas (z. B. in der Sekundarstufe II) lebt davon, dass die ethische Entscheidung nicht konstruiert ist, sondern persönlich oder gesellschaftlich relevant ist.

Historische Dilemmata werden in der religionspädagogischen Literatur als besonders wertvoll erachtet, weil es den Schülerinnen und Schülern ermöglicht, die Folgen der Entscheidungen bei die Bewertung der Handlungsweise mitzudenken.

War es gestattet oder gar geboten, dass sich Dietrich Bonhoeffer an den Planungen eines Attentats auf Adolf Hitler beteiligte? Die Werte, die einander widersprechen sind das Gebot „Du sollst nicht töten“, das für jeden Menschen und damit auch für die Mitglieder der „Obrigkeit“, der Regierung eines Landes gilt. Andererseits hätte vielleicht ein Tyrannenmord Hunderttausenden unschuldiger Menschen das Leben gerettet.


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Date: August 31, 2024 at 01:23PM
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