Von Schafen, die weglaufen

Von Schafen, die weglaufen

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Über die Aktualität eines Gleichnisses Jesu

Von Schafen, die weglaufen

Schöne Idee: dass nur ein Schaf der großen Herde wegläuft – und das wird vom Hirten auch noch gesucht und wiedergefunden. Tatsächlich aber laufen zurzeit der Kirche die Schafe massenhaft davon. Und niemand scheint sie zu suchen. Vom Finden ganz zu schweigen.

Foto: imago/stock&people
Wir gehen dann mal weg. Mit Kind und Kegel. Foto: imago/stock&people

Von Susanne Haverkamp

21,6 Millionen Katholiken gab es 2021 in Deutschland. Wenn von denen, wie in der biblischen Geschichte Jesu, eins von hundert wegläuft, dann wären das 216 000. Tatsächlich sind 2021 sogar 359 338 Katholiken aus der Kirche ausgetreten; nimmt man etwa die Kinder, die bei ihnen aufwachsen und indirekt mitaustreten, hinzu, kommt man locker auf zwei von hundert. Tendenz leider steigend.

Auch wenn das Bild von den Hirten und den Schafen kirchenpolitisch längst nicht mehr korrekt ist: Interessant ist es trotzdem, das heutige Evangelium auf die Situation unserer Kirche anzuwenden. Und darüber nachzudenken, warum so viele weglaufen und warum kaum jemand sie sucht.

Warum laufen die Schafe weg?

Im Stall ist es warm und kuschlig. Der Hirte sorgt für seine Tiere, er beschützt sie und leitet sie dorthin, wo frisches Gras und Wasser zu finden sind. Es ist für sie gesorgt, sie müssen den Weg nicht selbst finden, sich keine Gedanken machen, nur vertrauen und auf die warme Stimme des Hirten hören, der es gut mit ihnen meint und weiß, was sie brauchen. Eigentlich haben die Schafe ein gutes Leben.

So hat das auch in der Kirche lange funktioniert, jahrhundertelang, kann man sagen. Wer auf die Stimme der (Ober-) Hirten hörte, dem fehlte es religiös an nichts. Festmessen und Wallfahrten waren Nahrung für die Seele und ein warmes Gefühl, die Stimme des Predigers führte auf den richtigen Weg und niemand musste sich Gedanken machen, was wahr und was falsch ist. Und ja, auch wenn am Missbrauchsskandal nichts zu relativieren ist: Die meisten Hirten meinten (und meinen) es gut mit denen, die ihnen anvertraut waren und sind.

Allein: Unsere Gesellschaft hat sich gewandelt, unser Denken und Fühlen ist anders als noch vor dreißig, vierzig Jahren. Wege und Weiden können noch so gut sein – heute möchten wir sie selbst auswählen. Eine Stimme kann noch so warm und vertraut sein – wir möchten ihr trotzdem widersprechen dürfen. Ein Stall kann noch so sicher sein – wir möchten trotzdem hinaus in die Freiheit.

Und so kommt es, dass manche die Kirche verlassen, weil sie sich längst selbst eigene Weiden gesucht haben. Sie wollen das angebotene Futter einfach nicht, es schmeckt ihnen nicht. Und vielleicht brauchen sie es auch gar nicht. Und dazu gehören auch solche, die lange Zeit mitgegrast haben. Manche fühlen sich in der ganzen Herde unwohl. Die anderen Schafe, also wir, sind einfach nicht ihre Leute. Sie haben andere Interessen, andere Bedürfnisse, eine andere Ästhetik. Milieustudien haben längst erwiesen: Hedonisten, Performer, Traditionelle und wie sie alle heißen brauchen unterschiedliches Futter; eine Weide für alle reicht nicht mehr.

Wieder andere lehnen die Hirten ab. Aus eigener schlechter Erfahrung oder vom Hörensagen oder ganz grundsätzlich. Gerade heute, wo jede Verfehlung jedes kleineren oder größeren Hirten früher oder später öffentlich wird. Und wieder andere haben einfach die Regeln, die der Hirte vorgibt, satt. Oder halten sie für falsch. Und Hirten für unbelehrbar. Sie gehen weg, obwohl sie eigentlich gerne bleiben würden.

Wer sucht sie – oder auch nicht?

Warum das eine Schaf im Evangelium weggelaufen ist? Wir wissen es nicht. Vielleicht hatte es einen unbezwingbaren Freiheitsdrang. Vielleicht haben die andere Schafe es gebissen und geschubst und dadurch vertrieben. Vielleicht hat es einen fiesen Stockschlag vom Hirten abbekommen und ist geflohen. Vielleicht hat es nur fetteres Gras gesucht und sich verlaufen. Vielleicht war es eine Mischung aus mehreren Gründen. Sicher aber ist: Der Hirte ist hinterhergegangen. Er hat es gesucht, lange. Er hat keine Mühen und kein Risiko gescheut. Er war sich nicht zu schade dafür, selbst lozugehen. Er hat nicht erwartet, dass das Schaf reumütig zurückkommt, und hat es auch nicht abgeschrieben. Er hat es gesucht. Und zurückgeholt.

Nun sind es in der Kirche vielleicht zu viele Schafe, die weglaufen, und es gibt zu wenige Hirten, die sie suchen könnten. Einerseits. Andererseits scheint das Bemühen auch überschaubar zu sein. Vielleicht gibt es einen Brief vom zuständigen Pfarramt mit der Warnung: „Keine Trauung und keine Beerdigung für Ausgetretene!“ Hier und da gibt es ein Gesprächsangebot. Aber sonst? Wo ist die Gemeinde, die nicht nur Neuzugezogene, sondern auch Neuausgetretene besucht? Die anklingelt und nach Gründen fragt. Und danach, ob weiterhin Informationen gewünscht sind über kirchliche Angebote. Die deutlich macht: Sie sind vielleicht aus den Augen, aber nicht aus dem Sinn.

Natürlich würden dadurch keine Massen zurückgeholt. Aber die Tür bliebe einen Spaltbreit offen. Und der letzte Kontakt zur Kirche wäre ein wertschätzender, das Gefühl: Ich bin der Kirche nicht egal, die kommen hinterher, die suchen mich. Immerhin.

Gott und die Kirche

Schön, sagen Sie jetzt vielleicht. Nette Gedanken, aber ist das Bild nicht schief? Also, nicht wegen der Schafe, sondern wegen des Hirten. Schließlich ist im Evangelium Jesus der Hirte. Er ist gesandt „zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“, wie es im Matthäusevangelium heißt (15,24). Jesus ist der Hirte, nicht der Pastor oder der Bischof.
 
Das stimmt. Und klar: Wenn Menschen aus der Kirche austreten, können sie dennoch Gott treu bleiben, beten, in der Bibel lesen, Jesus zum Vorbild in ihrem alltäglichen Tun nehmen. Wir als Kirche dürfen uns nicht überschätzen, wir sind nicht der einzige Zugang zu Gott. Aber wir sind ein wichtiger Zugang, auch, weil es auf Dauer schwierig ist, alleine zu glauben. Wenn man eines von Jesus sicher weiß, dann ist es das: Er hat Gemeinschaft im Glauben gewollt. Er hat Jüngerinnen und Jünger um sich geschart. Er hat gesagt: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind …“ Er hat darum gebetet, dass die, die an ihn glauben, eins sind und zusammenbleiben.
 
Weil sie das wussten, haben die ersten Christen Gemeinden gebildet. Und haben sich von Anfang an am Sonntag, dem Tag der Auferstehung, getroffen, um Brot und Wein miteinander zu teilen. „Sooft ihr dieses Brot esst und aus diesem Kelch trinkt, denkt an mich“ – dieser Auftrag Jesu ist nicht einer unter vielen, er ist grundlegendes Vermächtnis Jesu.

Deshalb ist es nicht egal, wenn Menschen der Kirche davonlaufen. Vielmehr ist es der Auftrag Jesu an uns, seine Herde zusammenzuhalten, denen nachzugehen, die sie verlassen. Zu resignieren ist keine Option und auch nicht, die, die gehen, schulterzuckend ihrem Schicksal zu überlassen und sich im heiligen Rest selbstzufrieden einzuhegen.

Religion

via Bonifatiusbote – Der Sonntag – Glaube und Leben https://ift.tt/vBZ6tzf

September 11, 2022 at 08:33AM