
Wer schon einmal einen Elternabend zu medienpädagogischen Themen durchgeführt hat, kennt das Gefühl: Sobald problematische Aspekte der Mediennutzung junger Menschen zum Thema werden, geht ein Ruck durch die Eltern. Sie hören aufmerksam zu, stellen Fragen – was Redende sagen, wirkt stärker, als wenn sie über unproblematische Zusammenhänge sprechen. So entsteht eine Versuchung: Wer intensiv über Gefahren spricht und dabei in die Rolle der Warnerin oder des Warners schlüpft, entfaltet Wirkung. Es erscheint Eltern wichtig, informiert zu sein über Gefahren, die im Netz oder auf den Bildschirmen ihrer Kinder lauern – und einer Fachperson zuzuhören, die auch Tipps geben kann, wie man diesen Gefahren begegnet.
Wo liegt das Problem? Ist doch gut, könnte man meinen, wenn Eltern «sensibilisiert» werden für das, was ihren Kindern möglicherweise passiert. Ich zeige es an einem Beispiel, das auch als Illustration für diesen Beitrag dient: Hülya, über deren Rolle auf Instagram ich bereits vor ein paar Jahren einmal geschrieben habe, warnt aktuell in ihren Reels auf Instagram vor Snapchat – z.B. hier. Snapchat, so der Titel ihres Reels, sei «die gefährlichste App für Kinder». Das begründet sie wie folgt:
- Das Flammen-Feature führe zu Druck, der Kinder dazu drängen würde, auch intime Bilder hochzuladen.
- Die Standort-Funktion werde von Pädokriminellen genutzt, um Kinder zu suchen und Übergriffe zu planen.
- Auf Snapchat seien Kinder problematischen Inhalten ausgesetzt.
- Auf Snapchat würden Kinder von Pädokriminellen (verbal) misshandelt.






Das ist alles nur dann nicht falsch, wenn man extreme Beispiele raussucht. Die gibt es und damit würden Hülya und alle, die ihr zustimmen, auch argumentieren, dass die Warnung an die Eltern deshalb berechtigt ist. Die Grundeinsicht ist aber: Wir würden nicht vor dem Schulweg, vor Skifahren oder Eislaufen warnen, indem wir die krassesten Unfälle heranziehen, die sich dabei je ereignet haben. Kinder sterben bei all diesen Aktivitäten, sie bestimmen aber den Fokus der Eltern nicht.
Die Snapchat-Nutzung von Kindern und Jugendlichen sieht im Normalfall so aus: Sie nutzen die App, um Freund:innen und losen Bekannten viele Bilder zu schicken und den Kontakt zu halten. Hauptattraktion der App ist die soziale Eingebundenheit und das Spiel mit der aktuellen Realität und den Filtern. Flammen führen zu einem leichten sozialen Druck, der aber nichts damit zu tun hat, welche Bilder hochgeladen werden: Auch leere Bilder dienen dazu, die Strekas zu erhalten. Zudem nutzen viele Jugendliche Snapchat primär zum Chatten. Auf der Snap-Map sehen sie die Kontakte, die ihnen wichtig sind; viele sind nicht mit Fremden verbunden. Die konsumierten Videos entsprechen den eigenen Interessen, sie haben mit Idolen und Hobbies zu tun, nicht mit menschlichen Abgründen.
Überwachung digitaler Geräte ist ein echtes Problem, mit dem sich junge Menschen auseinandersetzen sollten. Dabei helfen aber Eltern nicht, die sich auf unwahrscheinliche, für viele Jugendliche auch absurde Gefahren konzentrieren. Sie müssen lernen, dass sie den Standort mit niemandem teilen müssen – aber sie dürfen das auch tun, wenn sie sich dabei wohl fühlen. Sie müssen lernen, dass sozialer Druck existiert und es zur Gesundheit gehört, Strategien zu erlernen, wie man mit diesem Druck umgeht.
Diese Lernerfahrungen verhindern einseitige, zugespitzte Warnungen. Eltern werden dadurch nicht «sensibilisiert», sondern sie entwickeln Ängste und versuchen etwas zu verhindern, was sie gar nicht verhindern können: Dass Kinder populäre Apps (heimlich) nutzen. Was sie brauchen ist ein echtes Verständnis für die komplexen Zusammenhänge zwischen sozialem Umfeld, Entwicklungspsychologie und Mediennutzung.
Lehrer:innen wie Hülya tappen in die Falle des pädagogischen Populismus. Sie dramatisieren Situationen und spielen sich als Retter:innen auf, weil sie die damit verbundene Aufmerksamkeit mögen (und davon weniger erhalten, wenn sie differenziert und sachlich bleiben). Damit erzeugen sie bei Eltern ein falsches Bild der Realität, das zu einer Belastung für Kinder und Jugendliche wird. Gleichzeitig immunisieren sie sich gegen diese Kritik, indem sie betonen, wie wichtig es sei, Eltern aufzuklären – gerade weil ganz schlimme Dinge passieren würden, gegen die man nicht genug tun könne.
Fazit: Wenn Lehrpersonen einseitig warnen, Gefahren zuspitzen und Eltern auffordern, ganz gut aufzupassen – dann sollte man ihnen diesen Beitrag zeigen und sie bitten, sich zu mässigen, sich einzulesen, mit jungen Nutzer:innen von Medienangeboten zu sprechen und differenzierter darüber zu berichten. Damit wäre allen geholfen.
Title: Vor digitalen Gefahren warnen – pädagogischer Populismus als Versuchung
URL: https://schulesocialmedia.com/2025/01/15/vor-digitalen-gefahren-warnen-padagogischer-populismus-als-versuchung/
Source: SCH ::: Schule Social Media
Source URL: https://schulesocialmedia.com
Date: January 15, 2025 at 09:53AM
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