Warum «Adolescence» kein sinnvoller Impuls zum Nachdenken über Jugendliche und Medien ist – und eine Theorie über Emotionen im Internet

Das ist Jamie, in der Netflix-Serie «Adolescence» gespielt von Owen Cooper. Jamie hat eine Mitschülerin umgebracht. Die vier Folgen der Serie zeigen:

  1. wie die Polizei Jamie verhaftet und behandelt
  2. wie Jamies Schulerfahrung und sozialen Beziehungen funktioniert haben
  3. wie Jamie psychologisch tickt und an welchen Rollenbildern er sich orientiert
  4. wie Jamie erzogen und von seinen Eltern begleitet wurde.

Die Serie ist nur in der ersten Folge kurz ein Krimi, bevor die Zuschauer:innen (und Jamies Vater und Jamies Anwalt) die erdrückenden Beweise vorgelegt werden: Jamie wurde bei der Tat gefilmt. Danach bietet die Serie eine Erklärung für die Tat. Sie zeigt, wie ein spezieller Junge aufgrund einer gewissen Vernachlässigung seiner Eltern, überforderten Lehrpersonen, durch permanentes Mobbing belastete Beziehungen zu Peers und eine problematische Mediennutzung zum Mörder wurde.

Die Rezeption der Serie betont vielstimmig, wie wichtig die Auseinandersetzung mit den Themen dieser Geschichte sei. Im Folgenden möchte ich dagegen argumentieren, ich bin überzeugt, dass «Adolescence» kein geeigneter Impuls ist, um über Jugendliche, Medien, Gewalt und Geschlechterrollen nachzudenken.

In der Kritik von Lisa Füllemann findet man das Argument, «Adolescence» sei wichtig, in folgender Formulierung:

Die Geschichte ist symptomatisch für unsere Zeit. Es geht um Kinder, die sich in den sozialen Medien bewegen, fernab ihrer Eltern, die schon lange nicht mehr wissen, was die Kinder dort genau treiben. Es ist eine Welt, in der harmlos wirkende Emojis schon eine tiefere Bedeutung haben, die Erwachsene kaum dechiffrieren können. Nur dank seines Sohnes findet Kriminalkommissar Luke Bascombe (Ashley Walters) heraus, dass Jamie von seinem späteren Opfer Katie auf Instagram vorgeworfen wurde, ein Incel zu sein. Der Begriff steht für «involuntary celibate» – «unfreiwillig zölibatär» – und beschreibt einen Mann, der keine Frauen abkriegt – und darum zum Frauenhasser wird. Wie ohnmächtig Eltern und Lehrer sind, wenn es darum geht, in welcher Realität ihre Kinder bereits leben, zeigt sich, indem sie sogleich von Andrew Tate sprechen. Viel mehr als den Namen des umstrittenen Männer-Influencers verbinden sie nicht mit dem Internetkult, der jungen Männern beibringt, dass sie sich von Frauen nehmen dürfen, was sie wollen. Dabei geht es bei Kindern schon lange nicht mehr nur um Figuren wie Tate. Es geht um weitverbreitete misogyne Theorien wie die «80-20»-Regel, die besagt, dass 80 Prozent der Frauen auf nur 20 Prozent der Männer stehen.

Die Serie analysiert die Zusammenhänge rund um die Manosphere-Influencer. Dabei handelt es sich um Männer, die sich an Knaben und pubertierende Jungs heranmachen, um sie entweder negativ zu beeinflussen oder finanziell auszubeuten. Eine gute Darstellung dieser Zusammenhänge findet sich im «Panic World»-Podcast zu Adolescence, auf die darin geäusserten Thesen von Ryan Broderick werde ich mich mehrmals beziehen. Das Manosphere-Thema ist bedeutsam, es ist eine zentrale Herausforderung für die gesunde Sozialisation junger Männer. Die Verbindung mit der Incel-Thematik sowie die Vorstellung von codierten Botschaften auf digitalen Plattformen sind hingegen problematisch.

Incels sind junge Männer, welche gerne Kontakte und Beziehungen mit Frauen führen würden, das aber nicht können. Sie ziehen sich ins Internet zurück und radikalisieren sich online, beeinflusst von Manosphere-Influencern. Ein 13-jähriger Junge ist kein Incel, er ist ein schlechtes Beispiel für dieses soziale Phänomen. Sicherlich werden viele 13-Jährige von Andrew Tate und anderen radikalen Frauenhassern manipuliert, auch von Incels. Sie können aber keine Incels sein und würden sich auch nicht als solche betrachten.

Selbstverständlich können viele Eltern und andere Erwachsene nicht genau verstehen, wie die digitale Kommunikation unter Teenagern verläuft. Diese können oft auch gar nicht genau erklären, was ihre Nachrichten und Symbole genau bedeuten. Ihre Mitteilungen sind oft esoterisch in dem Sinne, dass sie Eingeweihten ein Zugehörigkeitsgefühl ermöglichen und Erwachsene bewusst ausschliessen. Es wäre aber falsch zu denken, dass man mit dem richtigen Schlüssel auf Nachrichten von Jugendlichen blicken kann und plötzlich klar sieht, was hier eigentlich abgeht. Die Vorstellung, «harmlos wirkende Emojis» hätte «eine tiefere Bedeutung» mag in seltenen Ausnahmen korrekt sein – das ist aber nicht entscheidend. Radikalisiert werden junge Menschen, wenn sie mit den falschen Menschen auf die falsche Art über die falschen Themen nachdenken. Das tun sie oft im Versteckten – die Kenntnis von Codes hilft aber Erwachsenen nicht, das zu verstehen oder zu intervenieren.

Neben der problematischen Darstellung der Incel-Thematik und der seltsamen Sicht auf digitale Kommunikation halte ich die schauspielerische Leistung von Owen Cooper, der Jamie Miller spielt, für das dritte zentrale Problem. Cooper spielt einen zerrissenen 13-Jährigen, der kalkuliert die Kontrolle über jede Situation behalten will, zu impulsiven, gewalttätigen Wutausbrüchen neigt und gleichzeitig noch ein Kind ist, das sich nach Fürsorge und Wärme von Erwachsenen sehnt. Diese Mischung aus Gerissenheit und Aggressivität, aus Berechnung und Verletzlichkeit stellt Cooper so überzeugend dar, dass wir mit Jamie Miller letztlich eine Ausnahmefigur erleben. 13-Jährige sind nicht so wie Jamie Miller, solche Figuren gibt es nur in Netflix-Serien. Die für viele Kritiker:innen beste Folge von Adolescence, die dritte, zeigt das sehr deutlich: Eine professionelle, fürsorgliche Psychologin kümmert sich um Jamie und will abklären, wie er zum Mord steht, den er begangen hat. Die Interaktion ist spannungsgeladen, sie schlägt immer wieder um. Das muss in einer Serie so sein, damit wir über eine halbe Stunde lang zusehen, wie eine Psychologin mit einem Kind spricht – dafür erhalten wir aber keine realistische Darstellung eines Jugendlichen, sondern eine übertriebene, verdichtete, gescriptete. Dasselbe betrifft die Tat: Online-Radikalisierung hat viele Auswirkungen, sie führt zu psychischen Problemen, zu Gewalt, zu belasteten Beziehungen. Ein Mord unter 13-Jährigen ist das Extrem, das sich für Netflix eignet, aber nicht für ein Verständnis der grundlegenden Zusammenhänge.

Damit sind wir beim vierten Problem, das ich in der Serie sehe. Die Darstellung der Institutionen, in denen sich Jugendliche bewegen, sind seltsam schwarz-weiss gezeichnet. Die Polizei ist hoch professionell, sie agiert fürsorglich, aber streng, hält sich kleinlich an Regeln und Abläufe und achtet doch auf die Bedürfnisse der Menschen, mit denen sie zu tun hat. Sie ist in der Serie zweifelsfrei im Recht, sie muss einen Mord aufklären und den Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen, tut das aber in jeder Hinsicht professionell. Das ist Copaganda in Reinform. Dasselbe gilt für die Institution, in der Jamie abgeklärt wird: Die Wärter agieren zurückhaltend, aber bestimmt, die Gutachten werden sorgfältig und unter Berücksichtigung professioneller Standards entwickelt.

Die Realität sieht anders aus. Nehmen wir Brian, der in der Schweiz mit 10 Jahren in Kontakt mit der Polizei kam. Humanrights.ch fasst seine Geschichte wie folgt zusammen:

Als 10-Jähriger wird Brian fälschlicherweise der Brandstiftung verdächtigt, mit Handschellen wird er von zu Hause abgeführt und das erste Mal in Untersuchungshaft genommen. Als 12-Jähriger (2008) wird Brian angeblich «zu seiner eigenen Sicherheit» acht Monate lang in einem Erwachsenengefängnis inhaftiert. An seinem sechzehnten Geburtstag (2011) wird Brian in einer psychiatrischen Klinik während dreizehn Tagen ununterbrochen ans Bett fixiert, es werden ihm starke Medikamente zwangsverabreicht. Nach einem medialen Aufschrei wegen der Einrichtung eines Sondersettings (Fall «Carlos») wird der 17-jährige Brian (2013) sechs Monate lang ohne rechtliche Grundlage im Massnahmenzentrum Uitikon eingesperrt. Als 19-jähriger (2015) kommt Brian sechs Monate lang unschuldig in Untersuchungshaft, weil ihn jemand eines Messerangriffs beschuldigt. Als 21-Jähriger (2017) erfährt Brian im Gefängnis Pfäffikon eine unmenschliche Behandlung im Sinne der Definition in der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Andererseits wird die Schule als eine Institution gezeigt, in der verrohte Schüler:innen einander quälen, ohne dass die inkompetenten Lehrpersonen auch nur das Geringste tun könnten, um das zu verhindern. Während es viele Details aus der Darstellung sicherlich so gibt (überforderte Lehrpersonen, Mobbing, Übergriffe etc.), werden sie in der Serie so zusammengesetzt und verdichtet, dass Zuschauer:innen schließen müssen, Schüler:innen seien in der Schule Mobbing komplett schutzlos ausgeliefert, während ihre Schul-Erfahrungen ein zentraler Faktor in ihrer Radikalisierung darstellt.

Eine Schülerin verprügelt einen Schüler, Screenshot Adolescence.

Den fünften Kritikpunkt, die seltsame Kameraführung, halte ich kurz: Ein künstlerisches Mittel wird eingesetzt, um eine Art hektische Unmittelbarkeit herzustellen, die uns zeigt, wie überfordert die Erwachsenen im Moment sind. Gleichzeitig wirkt das extrem künstlich, wenn etwa eine Drohne genutzt wird, um uns von A nach B zu bringen, oder wenn die Kamera Menschen nur folgt, um einen Schnitt ersetzen zu können. Das Verfahren müsste entweder konsequent auf POV setzen oder sich mit Schnitten an einer zeitlichen Vorgabe orientieren.

Aus der Serie können wir mitnehmen, dass es eine Incel- und Manosphere-Kultur gibt, in der junge Männer radikalisiert werden. Sie sprechen sehr selten offen darüber, verinnerlichen aber in komplexen, langfristigen Prozessen Gebote zur Selbstoptimierung, zur Isolation, zum Frauenhass. In einem Artikel im Cut hat Kathryn Jezer-Morton die damit verbundenen Herausforderungen für Eltern als Dilemma präsentiert:

We’ve given our children access to media technology that very few of us are capable of managing, and now they’re consuming content they are developmentally unequipped to handle. No one knows what to do. In one corner, we’ve got the idea […], that kids need more independence among their own peers, that “quality time” with adults is not what they’re missing. In the other corner, whenever we leave our kids alone, it’s far too easy for them to get sucked into toxic online vortices.

Über dieses Dilemma müssen Eltern nachdenken: Wie können sie Teenager auf eine Art begleiten, welche diese annehmen können – und ihnen dabei so viel Freiraum lassen, wie sie für ihre Entwicklung brauchen, im Wissen darum, dass sie im Internet von niederträchtigen Männern manipuliert und missbraucht werden?

Aus meiner Sicht ist Adolescence kein geeignetes Format, um über diese Zusammenhänge nachzudenken. Ryan Broderick hat im bereits erwähnten Podcast eine Theorie formuliert, die zeigt, wie Radikalisierung im Internet über eine Besetzung emotionaler Schwachstellen funktioniert. Anfällige Menschen lassen sich von Ideen im Internet anstecken, um emotionale Abgründe zu füllen. Das ist ein langsamer, aber konstanter Prozess, der sich schlecht in einem kriminahen Format zeigen lässt. Ich zitiere ein automatisch generiertes Transkript:

The Internet provides an emotional replacement that is extremely seductive and engrossing. And the pandemic being the moment when teachers started noticing more incels in schools makes sense because based on everything that we can see, the the pandemic was a moment when more people started to use the Internet. So I don’t actually think it’s a matter of this ideology spreading. I actually think it’s just like there’s a subset of people that this will be true for because of the way the Internet sort of interacts with the human brain and the human emotional system and all of that. It’s the same kind of logic behind, like, the rise in gambling online during the pandemic. And, like, there’s just a bunch of, like, weird Internet bait that the resurgence of eating disorder content on TikTok during the pandemic.

There are mimetic social diseases, and I think toxic masculinity is one of them. That’s really bleak. […] There is a lot of people out there who, when given the option to fill the void inside of them with Internet content, will, and it manifests in different ways. And if we can target that, we might be able to kill the whole thing. That’s the issue.

Als eine Art Fazit kann ich das Menschenbild, das hinter Adolescence steht, als Mittelpunkt meiner Kritik heranziehen. Die Serie stellt junge Männer genau so dar, wie das die Manosphere tut: Als isolierte Wesen, die weder mit ihrer Sexualität noch mit dem Sinn ihres Lebens klarkommen. Die von Frauen oder Vätern etwas bräuchten, was diese ihnen vorenthalten, weshalb sie sich an Figuren wie Andrew Tate wenden müssen, die ihnen destruktive Gedanken einflössen. Im New Yorker schreibt Doreen St. Félix in ihrer Kritik:

The creators of “Adolescence” think of the contemporary English boy as a breakable creature, abandoned by society. No one has taught him how to manage his incipient sexuality; no one has taught him how to cope with rejection. Interestingly, the feeling of abandonment mirrors the animating force of the nastiest parts of the American manosphere: the belief that men got left behind.

Throughout the series, Eddie laments his parenting, and questions whether he’d unwittingly abdicated his responsibilities. […] And yet this is not the “sins of the father” literary scenario of earlier centuries. Rather, this son is inheriting an earth his father does not know.

Wir müssen die Beziehungen zu diesen jungen Männern aufrecht halten. Sie müssen sich so an uns Lehrer:innen und Erwachsenen reiben können, dass sie merken, dass die Manosphere-Influencer Märchen erzählen, dass die Welt nicht so ist, wie sie sich das haben einreden lassen. Wir dürfen nicht in die verschiedenen Moral Panics verfallen, die sich hier gebildet haben, uns nicht von der Angst leiten lassen, ein 13-Jähriger würde unbemerkt ein Mädchen umbringen, weil er im Internet die falschen Nachrichten erhalten hat. Wir dürfen aber auch nicht so tun, als ob diese Radikalisierungstendenzen nicht gebe und Menschen Bedürfnisse nicht mit Internet-Manipulationen zudecken würden.


Title: Warum «Adolescence» kein sinnvoller Impuls zum Nachdenken über Jugendliche und Medien ist – und eine Theorie über Emotionen im Internet
URL: https://schulesocialmedia.com/2025/04/23/warum-adolescence-kein-sinnvoller-impuls-zum-nachdenken-uber-jugendliche-und-medien-ist-und-eine-theorie-uber-emotionen-im-internet/
Source: SCH ::: Schule Social Media
Source URL: https://schulesocialmedia.com
Date: April 23, 2025 at 11:54AM
Feedly Board(s): Schule