Warum ballt Luther die Faust? Oder: Fünf Gründe, den Wittenberger Reformator nicht zu verehren. Und fünf Gründe, es doch zu tun.

Horst Heller
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Im Eingangsbereich der Gedächtniskirche der Protestation in Speyer wird der Besucher von einer überlebensgroßen Bronzestatue begrüßt, die den Reformator zeigt. Mit dem Rücken zur Kirche blickt er auf den belebten Vorplatz der neugotischen Kirche – über die Köpfe der Menschen hinweg. Seine rechte Hand ist zur Faust geballt. Wer die Kirche betritt, denkt nun nach, was diese Geste bedeutet. Ist sie ein Ausdruck seiner Entschlossenheit? Oder erwartet die Gläubigen im Gottesdienst eine Donnerwetter-Predigt? Auch die Bibel in der linken Hand kann die Sorge nicht zerstreuen, dass das Evangelium heute keinen Trost für Traurige und keine Vergewisserung für Zweifelnde, sondern eine Zurechtweisung bereithält.

Speyer ist für die Reformation ein wichtiger Ort. Zweimal tagte der Reichstag in dieser Stadt. Doch in meiner pfälzischen Heimat ist der Protestantismus weniger von lutherischer als vielmehr von reformierter und unierter Theologie geprägt. Aber es sind nur wenige Einrichtungen nach Martin Bucer (1491-1551), Zacharias Ursinus (1534-1583) oder Johann Friedrich Butenschoen (1764-1842) benannt. Die Zahl der Martin-Luther-Kirchen hingegen ist groß. Gemeinden und kirchliche Einrichtungen tragen seinen Namen. Das erstaunt. Denn der Wittenberger Reformator hatte menschliche und theologische Schwächen.

Luther war polemisch. Luther war in seiner Wortwahl gegenüber Gegnern nicht zimperlich. Insbesondere den Papst beschimpfte er unflätig. Klar, seine derbe Redeweise, mündlich wie schriftlich, war in gewissem Grad sogar kreativ und teilweise stilbildend. Klar ist ebenso, dass auch seine Gegner schwere Geschütze auffuhren. Aber Beleidigungen bleiben Beleidigungen. Die Kunst, Meinungsunterschiede auszutragen, ohne den Disputanten herabzusetzen, beherrschte der Reformator nicht.

Luther konnte keine Kompromisse schließen. Am deutlichsten wurde das beim Marburger Religionsgespräch (1529) mit Huldrych Zwingli. Es ging um ein Wort. „Hoc est corpus meum. Das ist mein Leib“ (Mk 14,22). Was bedeutete das Wort est in diesem Satz? Wieviel Leid wäre der evangelischen Seite erspart geblieben, hätten die Anwesenden eine Formel gefunden, mit der beide Seiten leben konnten.
Dem hochgelehrten und klugen Philipp Melanchthon kommt diesbezüglich ein besonderes Verdienst zu. Er war der einzige unter Luthers Mitstreitern, dem Luther eine abweichende Meinung verzieh (außer vielleicht seiner Frau Katharina). Er hörte ihm zu, ließ ihn manchmal sogar gewähren.

Luther hatte Angst vor dem Teufel. Das überrascht zunächst. Hatte er doch mit seiner reformatorischen Entdeckung den gnädigen Gott gefunden, der seine Angst zunächst überwand. Doch nicht nur auf der Wartburg, wo er der Legende nach das Tintenfass nach der Teufelsfratze warf, sondern sein ganzes Leben lang lebte er in der Sorge, der Teufel könne sein Werk zerstören. In der dritten Strophe seines reformatorischen Liedes Ein feste Burg ist unser Gott besingt er die Angst und den Trost: „Der Fürst dieser Welt, wie sau’r er sich stellt, tut er uns doch nicht; das macht, er ist gericht’. Ein Wörtlein kann ihn fällen.

Luther und die Bauern. Über Luthers Reaktion auf die Gewalt der Bauern ist viel geschrieben worden. Zunächst hatte er ihre Forderungen unterstützt, dann aber empfahl er den Landesherren, die Aufstände niederzuschlagen. Auch hier sah Luther sein reformatorisches Werk in Gefahr. Er erkannte nicht, dass die Zeit zu Ende war, in der jeder Stand sein – wenn auch nur bescheidendes – Auskommen hatte. Die Bauern waren verarmt, ihre Forderungen waren berechtigt.

Luther und die Juden. War Luther ein Antisemit? Nachdem er zunächst sich freundlich gegenüber Juden geäußert hatte, vertat er zunehmend antijüdische Einstellungen und verbreitete sie im Alter. Seine Einstellung zum Judentum prägte den Protestantismus über Jahrhunderte. Auch, wenn er sich keiner rassischen Argumentationsmuster bediente (die es im 16. Jahrhundert noch nicht gab), konnten Antisemiten des 19. Jahrhunderts und die Nationalsozialisten zu ihrer Rechtfertigung aus seinen Schriften zitieren.

Das alles gehört zu Martin Luther. Und dennoch: An keinem anderen Reformator kann man so gut zeigen, was es bedeutet, evangelisch zu sein.

Die Entdeckung des gnädigen Gottes. Seit Luther wissen die Menschen (wieder), dass Gott nicht menschenfeindlich, rachsüchtig, hinterlistig oder gleichgültig ist. Luther fand diese Erkenntnis im Römerbrief und in den Psalmen. Er hätte auch das Gleichnis vom gütigen Vater des verlorenen Sohnes lesen können. Die Parabel hätte zwar nicht seine Frage nach der Gerechtigkeit Gottes beantwortet, aber den gnädigen Gott finden wir auch dort – ebenso wie in den Gleichnissen Jesu, ja überall in beiden Testamenten der Bibel.

Sola Scriptura. Für mich vielleicht sein größter Verdienst. Er sagte: Päpste und Konzilien haben oft geirrt. Da hatte er recht. Glaubensbekenntnisse und kirchliche Dogmen können deshalb nicht Maßstab des Christlichen sein. Er selbst hat sich auch oft geirrt (siehe oben), deshalb sind auch die reformatorischen Bekenntnisschriften Dokumente ihrer Zeit. Der Bibel allein kommt die höchste theologische Autorität zu. Dass das Bibelbuch allerdings ein vielschichtiges Werk ist und dass ihre Bücher sehr unterschiedliche Autorität beanspruchen können, habe ich in einem anderen Blogbeitrag beschrieben.

Übrigens: Luthers Übersetzung der Bibel in die deutsche Sprache war ein geniales Werk. Für das Alte Testament arbeitete der Reformator im Team, aber es war und ist seine Sprache, die die Lutherbibel bis heute auszeichnet. Als das Septembertestament 1522 erschien, war jeder, der lesen oder wenigstens zuhören konnte, in der Lage, die biblischen Texte zu verstehen.

Luther lehrt uns, was eine gute Predigt ist. Luther predigte sein Leben lang fast täglich. Ich wünschte mir, die Predigten in den protestantischen Kirchen wären heute so bibelnah und so lebensnah wie die des Reformators. Ob der Satz „Tritt frisch auf, tu’s Maul auf, hör bald auf!“ wirklich von Luther stammt, ist zweifelhaft. Aber sicher ist: Er predigt so, wie es dieser Dreiklang empfiehlt. Die evangelische Kirche ist jedenfalls gut beraten, die Predigtkultur Luthers wieder zu ihrem Markenzeichen zu machen.

Solus Christus. Lucas Cranachs Bild an der Predella des Altars der Wittenberger Stadtkirche zeigt Luther auf der Kanzel. Vor ihm stehen und sitzen die Honoratioren der Stadt, unter ihnen der Maler selbst. Auch Katharina Luther und der älteste Sohn Hans sind zu erkennen. Mit der ausgesteckten Hand deutet Luther auf den gekreuzigten Christus in der Mitte des Bildes. Dieses Gemälde aus dem Jahr 1547 sagt mehr als ein theologischer Aufsatz, worum es Martin Luther ging.

Freiheit und Gewissen. Luthers Gewissensbegriff war noch nicht modern. Aber sein Auftreten vor dem Reichstag von Worms zeigt, dass sein Gewissen ihn einerseits an Bibel und Vernunft band, ihm aber andererseits die Freiheit gewährte, Kaiser, Papst und Kardinälen zu widersprechen. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist.“ Dieser Satz Luthers, gesprochen im April 1521 vor Kaiser und Fürsten, hat eine Wirkungsgeschichte, die bis in die Gegenwart reicht. Die Freiheit des Gewissens hat es auch in das deutsche Grundgesetz geschafft. Wie gut!

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Title: Warum ballt Luther die Faust? Oder: Fünf Gründe, den Wittenberger Reformator nicht zu verehren. Und fünf Gründe, es doch zu tun.
URL: https://horstheller.wordpress.com/2024/10/24/warum-ballt-luther-die-faust/
Source: Horst Heller
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Date: October 24, 2024 at 09:09AM
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