Horst Heller
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Sie ist eigentlich einfach zu verstehen. „Sei so zu anderen, wie du willst, dass sie zu dir sind.“ Die Goldene Regel findet sich im Matthäusevangelium (7,12) und ist ein Spitzensatz der Bergpredigt Jesu. Martin Luther übersetzte sie so: Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!“ Matthäus fügte einen Satz Jesu hinzu: „Das ist das Gesetz und die Propheten.“ Die Goldene Regel ist also keine neue Ethik Jesu, sondern fasst die Weisungen der Tora zusammen.
Dieser Blogbeitrag beschreibt einen Weg, um die Goldene Regel in der Grundschule zu erarbeiten, und zeigt auf, dass sie für das globale und interreligiöse Lernen von großem Wert ist.
Die Goldene Regel ist ein einfacher Prüfstein für das eigene Handeln. Sie schlägt für alles, was Auswirkungen auf andere hat, einen gedanklichen Rollentausch vor: Stelle dir vor, nicht du, sondern dein Mitmensch sei der Handelnde. Stelle dir vor, nicht er, sondern du seist der Betroffene. Würdest du Glück empfinden, wenn er so handelt, wie du es beabsichtigt? Oder wärest du verunsichert, verärgert oder gar verletzt? Eigene Handlungsoptionen werden so vorab kritisch reflektiert. Dieses selbstreflexive Gedankenexperiment hat sich bewährt und in die Volksweisheit Eingang gefunden. Die Goldene Regel in einer gereimter Fassung lautet: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“
Was bestechend einfach klingt, ist religionsdidaktisch leider so einfach nicht
Disziplinargespräche in der Schule, die mit dem Satz beginnen: „Wie würdest du reagieren, wenn der NN das mit dir gemacht hätte?“ führen oft nicht zu der gewünschten Einsicht. Das liegt daran, dass die Fähigkeit zum Wechsel der Perspektiven nicht vorausgesetzt werden kann, sondern eingeübt werden muss. Die Entwicklungspsychologie lehrt uns, dass Kinder damit im Alter von etwa sieben Jahren beginnen können. Im dritten Schuljahr ist die Goldene Regel deshalb ein lohnender Unterrichtsinhalt.
Der dafür notwendige andere Blickwinkel auf das eigene Handeln gelingt leichter, wenn der Unterricht drei Dinge bedenkt.
Die Erarbeitung der Goldenen Regel beginnt mit einer Entscheidungs-, Dilemma- oder Konfliktgeschichte.
Der neue Perspektive ist nicht global („Wenn jeder so handeln würde wie du …“), sondern konkret (s. das folgende Beispiel).
Der Unterricht wählt einen affektiven Zugang und benennt in einem Zwischenschritt emotionale Reaktionen auf Handlungen.
Ein Beispiel: Kurz vor der großen Pause stellt eine Schülerin fest, dass in ihrem Schreibmäppchen Geld fehlt. Wer hat es genommen? Einige Mitschülerinnen und -schüler wissen, dass sie Geld für den Kuchenverkauf bei sich hatte. Ein Mädchen ihrer Klasse hat vor längerer Zeit schon einmal Geld aus der Klassenkasse genommen. Es gibt Tränen, Zorn, Verdächtigungen, Anschuldigungen und Unschuldsbeteuerungen. So gehen die Kinder in die Hofpause. Es fällt ihnen auf, dass ein Junge sich heute ein Stück Kuchen kauft, obwohl er das sonst nie getan hat.
Die Lerngruppe, die diese Geschichte hört, ist zunächst versucht, sich als Detektivkollektiv zu versuchen. Wer hat das Geld genommen? Nacheinander verdächtigen sie alle Beteiligten. Doch dann lenkt die Lehrperson den Blick auf die Lernintention der Erzählung. Es folgt eine Erarbeitung.
Erster Schritt: Die Gefühle aller Beteiligten werden mit Emojis dargestellt. Namenskarten werden mit traurigen, zornigen, weinenden oder nachdenklichen Emojis verbunden.
Zweiter Schritt: Diese Gefühle werden in Gedankenblasen verbalisiert und verschriftlicht.
Dritter Schritt: Die Goldene Regel wird eingeführt und in Gruppenarbeit versuchsweise paraphrasiert. Dabei sind Fehldeutungen erlaubt, ja sogar nützlich. Ein Beispiel: Eine Gruppe schlägt den Satz vor: „Behandle andere Kinder so, wie sie dich behandeln.“ Das stellt die Goldene Regel auf den Kopf. Es wird aber angekündigt, dass diese Formulierung in den nächsten beiden Schritten noch einmal überprüft wird.
Vierter Schritt: Die Goldene Regel wird auf den Streitfall angewendet. Wie fühlt sich das Mädchens, dem Geld gestohlen wurde? Welches Handeln empfiehlt die Goldene Regel dem Kind, das das Geld genommen hat?
Welche Gedanken macht sich das Kind, das zu Unrecht verdächtigt wird? Was sollen folglich die bedenken, die es beschuldigen?
Fünfter Schritt: Die Goldene Regel wird abschließend in eigenen Worten formuliert. Falls nötig werden Versuche aus dem dritten Schritt behutsam korrigiert. Differenzierungen sind möglich und sinnvoll:
Einfaches Anforderungsniveau: Die Paraphrase bleibt konkret und auf den Fall bezogen. Ein Beispiel: Ich mag es nicht, wenn ich ohne Grund beschuldigt werde, obwohl ich nichts Böses getan habe. Deshalb klage ich auch andere nicht an.
Gehobenes Anforderungsniveau: Die Paraphrase ist allgemeingültig und formuliert einen Grundsatz. Ein Beispiel: Ich denke erst darüber nach, wie es wäre, wenn jemand gemein zu mir ist. Dann bin ich auch nicht gemein zu anderen.
Die Goldene Regel ist kein exklusiv jüdisch-christliches Traditionsgut. Das macht sie unendlich wertvoll
Seit Jahrtausenden ist die Goldene Regel Teil der Ethik der Religionen und Philosophien. Es gibt vergleichbare ethische Grundsätze im Buddhismus, Judentum, Islam und in chinesischen Religionen. Der katholische Theologe Hans Küng (1928-2021) hatte daraus schon in den 1980er Jahren geschlossen, dass die Religionen, Kulturen und Philosophien der Welt über ihre grundlegenden Wert- und Moralvorstellungen verbunden sind. Auf einer Tagung des Parlaments der Weltreligionen im Jahr 1993 in Chicago verabschiedeten 7000 Religionsvertreterinnen und -vertreter eine Erklärung zum Weltethos. Über 200 Repräsentantinnen und Repräsentanten der Weltreligionen, allen voran der Dalai Lama, aber auch Vertreter von Gemeinschaften Nichtglaubender, unterzeichneten die Abschlusserklärung. Es beschwor zwei Grundsätze, auf die sich die Welt angesichts drängender globaler Probleme einigen könne. Es waren die beiden Prinzipien Humanität und Gegenseitigkeit. Mit dem zweiten der beiden Begriffe unterstrichen sie die überragende Bedeutung der Goldenen Regel für den interreligiösen Dialog sowie für das ethische, interreligiöse und globale Lernen.
Es gibt ein Prinzip, die Goldene Regel, die seit Jahrtausenden in vielen religiösen und ethischen Traditionen der Menschheit zu finden ist und sich bewährt hat: Was du willst, dass man dir tut, das tue auch den anderen! Dies sollte die unverrückbare, unbedingte Norm für alle Lebensbereiche sein. … Egoismen jeder Art – jede Selbstsucht, sie sei individuell oder kollektiv, sie trete auf in Form von Klassendenken, Rassismus, Nationalismus oder Sexismus – sind verwerflich. Wir verurteilen sie, weil sie den Menschen daran hindern, wahrhaft Mensch zu sein. …
Dieses Prinzip schließt konkrete Maßstäbe ein, an die wir Menschen uns halten sollen. Aus ihm ergeben sich vier umfassende uralte Richtlinien, die sich in den meisten Religionen dieser Welt finden.
– Die Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben
– Die Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung
– Die Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit
– Die Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau
Quelle: https://www.weltethos.org/wp-content/uploads/2022/10/weltethos-erklaerung-2018.pdf
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Title: „Was du nicht willst, dass man dir tu…“ Was bestechend einfach klingt, ist didaktisch anspruchsvoll, aber in mehrfacher Weise wertvoll. Die Goldene Regel und das ethische Lernen
URL: https://horstheller.wordpress.com/2025/02/28/goldene-regel/
Source: Horst Heller
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Date: February 28, 2025 at 07:59AM
Feedly Board(s): Religion