Was Schulen fehlt, ist der Mut zum Weglassen

Warum De-Implementierung?

Das Bildungssystem steht ohne Zweifel vor großen Herausforderungen: Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden unter psychischen Erkrankungen, die schulischen Leistungen gehen laut PISA– und IQB-Studien zurück, und der Lehrkräftemangel spitzt sich weiter zu. Gleichzeitig steigen die Frühpensionierungen und krankheitsbedingten Ausfälle von Lehrkräften, während sich immer weniger junge Menschen für den Lehrberuf begeistern. Die Frage wird in den nächsten Jahren folglich nicht sein, ob Schule mit weniger Ressourcen auskommen muss, sondern an welchen Stellen Ressourcen eingespart werden.

Wie kann es gelingen, die Qualität der Bildung nicht nur zu sichern, sondern sogar zu verbessern? Eine Möglichkeit besteht darin, den wachsenden Schatz empirischer Bildungsforschung zu verwenden, um zu identifizieren, welche schulischen Praktiken tatsächlich wirken – und welche nicht. Nicht subjektive Vorlieben, ideologische Orientierungen oder pädagogische Traditionen sind das ausschlaggebende Kriterium, sondern ausschließlich die empirisch bestimmbare Wirksamkeit. Oder kurz: Was nichts bringt, kommt weg. Statt wertvolle Zeit und Energie in ineffektive Maßnahmen zu investieren, könnte das Bildungssystem gezielt Ballast abwerfen, um Ressourcen für sinnvolle Maßnahmen freizumachen und die Arbeitsbelastung insgesamt zu reduzieren.

Die „Mehr ist besser“-Logik

Die Schulentwicklung in Deutschland der letzten Jahrzehnte basiert ausschließlich auf einer additiven Logik: Noch eine Maßnahme, noch ein Konzept, noch ein Programm, noch eine Handreichung, noch ein Modellversuch. Warum spielen subtraktive Strategien („Weniger ist mehr“) fast keine Rolle? Eine Antwort auf diese Fragen liefert die wegweisende psychologische Studie „People systematically overlook subtractive changes“. Die Studie verdeutlicht, dass unser Denken oft nach dem Prinzip „mehr ist besser“ funktioniert, selbst wenn das Entfernen von Elementen die bessere Lösung wäre. In mehreren Experimenten sollten Teilnehmerinnen und Teilnehmer Probleme lösen, indem sie entweder Komponenten hinzufügten oder entfernten. Die Ergebnisse zeigten, dass Menschen systematisch additive Lösungen bevorzugen. Subtraktive Veränderungen werden selbst dann übersehen, wenn sie einfacher oder kostengünstiger sind.

Neben dieser sehr grundsätzlichen menschlichen Tendenz kommt im Schulsystem noch ein wesentlicher Faktor hinzu, der die „Mehr ist besser“-Logik mitbedingt: Da die Arbeitsqualität von Lehrkräften schwer bis unmöglich bestimmbar ist, hat sich im Schulsystem eine Art Ersatzkriterium etabliert: die Arbeitsquantität. Das Schulsystem „misst“ Leistung über den Aufwand, nicht anhand des Ergebnisses. Es setzt Anreize und vergibt Gratifikation anhand dessen, wie viel Beschäftigte machen, nicht wie gut das Ergebnis dieser Arbeit ist. Es geht in erster Linie darum, wer engagiert ist, nicht wer effektiv oder gar effizient arbeitet. „Only a busy teacher is a good teacher.“ Nebenbei bemerkt führt diese systemische Eigenheit auch zu der (von Außenstehenden oft als etwas seltsam wahrgenommenen) Tendenz von Lehrerinnen und Lehrern, in hohem Maße zu betonen, wie viel sie arbeiten. Der Grundgedanke der De-Implementierung ist dagegen der: Es ist egal, wie viel Aufwand betrieben wird, wichtig ist, welche Ergebnisse mit möglichst wenig Aufwand erzielt werden.

Was kann weg?

Die meisten Akteure im Bildungssystem sind sich einig, dass gerade unter den aktuellen Bedingungen Dinge gestrichen werden müssen. Schwierig wird es aber sofort, wenn diese Dinge näher bestimmt werden sollen. „Wir machen weniger“ hört sich leicht an, in der Realität ergeben sich aber bei vielen De-Implementierungsmaßnahmen massive Vorbehalte (Hören Sie dazu auch das Gespräch mit John Hattie).

Echtes Einsparpotenzial bei gleichzeitig aufrechterhaltener oder sogar gesteigerter Qualität bieten gerade solche Praktiken, die „das Eingemachte“ von Schule und der Tätigkeit von Lehrkräften betreffen. Zustimmung zur Notwendigkeit von Reduktionen ist schnell gefunden, doch sobald es darum geht, konkrete dysfunktionale Praktiken zu benennen, folgt bei vielen Bildungsakteurinnen und -akteuren oft ein reflexhaftes „Ja, ABER …“.

Sie können dies für sich selbst anhand folgender Aussagen prüfen:

  • In einer großen Meta-Analyse konnte gezeigt werden, dass Korrekturen (z. B. von Übungsaufsätzen oder anderen Übungsaufgaben in den Fremdsprachen) zu keinerlei Verbesserung der Sprachproduktion von Schülerinnen und Schülern führen. Korrekturen können massiv reduziert werden.
  • In einer Studie aus dem Jahr 2018 wurde nachgewiesen, dass die (aufwendige) Vorbereitung von individuellen Materialien durch Lehrkräfte im Vergleich zur Verwendung vorgefertigter Materialien keinerlei nachweisbare positive Effekte auf Lernerfolge von Schülerinnen und Schülern hat. Eine individuelle Unterrichtsvorbereitung ist nicht nötig.
  • Laut einer Meta-Analyse zum Thema Differenzierung existieren für die meisten Maßnahmen der Anpassung von Arbeitsmaterialien keine Belege, dass diese zu besseren Lernergebnissen führen. Auf die Anpassung von Material an verschiedene Voraussetzungen von Lernenden innerhalb einer Lerngruppe kann in den meisten Fällen verzichtet werden.
  • Forschungsergebnisse zeigen, dass Kinder durch Dekoration im Klassenzimmer mehr abgelenkt sind, mehr Zeit abseits ihrer Aufgaben verbringen und geringere Lernfortschritte zeigen als dann, wenn die Dekoration entfernt wird. Die zeitintensive Erstellung von Klassenzimmerdekoration kann eingespart werden.
  • Ein Review zur Wirksamkeit von Lehrkräftefortbildung zeigt: One-shot-Fortbildungen (einmalige Veranstaltungen zum Beispiel mit Vortrag und Workshops) wirken weder auf die Kompetenz von Lehrkräften noch auf die Lernerfolge von Schülerinnen und Schülern. Auf One-shot-Fortbildungen kann komplett verzichtet werden.
  • Lehrproben und Unterrichtsbesuche sind völlig ungeeignet, um die Unterrichtsqualität festzustellen, da sie eine extrem niedrige Reliabilität aufweisen, die Bewertung in hohem Maße von der Leistungsfähigkeit der Lernenden abhängt und auch geschulte Personen nicht in der Lage sind, anhand von Beobachtungen effektive Lehrpersonen von wenig effektiven zu unterscheiden. Unterrichtsbesuche und Lehrproben als Formen der Bestimmung der Arbeitsqualität sind abzuschaffen.

Weg mit den Zeitfressern

Die Befunde geben eindeutige Hinweise darauf, dass gerade die Tätigkeiten von Lehrerinnen und Lehrern, die einen erheblichen Anteil der Arbeitszeit außerhalb des gehaltenen Unterrichts ausmachen und/oder zu den höchsten Belastungen führen, nicht oder wenig dazu beitragen, dass Schülerinnen und Schüler gut lernen können oder die Qualität von Schule insgesamt gesteigert wird. Folglich ergibt sich die Frage, welches Einsparpotenzial sich ergeben würde, wenn man diese Praktiken stark reduzieren oder entfernen würde.

Wie kann das konkret aussehen?

  1. Lehrerinnen und Lehrer könnten Zeitfresser durch eine systematische Arbeitszeitanalyse identifizieren. Ihre Vorbereitungs- und Korrekturpraxis ließe sich effizienter gestalten, indem sie kooperativ Unterrichtsmaterialien vorbereiten, auf bereits vorhandene Materialien zurückgreifen und aufwendige Detailkorrekturen durch zeitsparende Feedback-Verfahren ersetzen.
  2. Schulleitungen könnten Anreizsysteme anpassen, indem sie Leistungsprämien, Auszeichnungen und Beurteilungen stärker auf Effektivität und Effizienz ausrichten. Zudem wäre eine systematische Evaluation bestehender Maßnahmen sinnvoll, um Programme, Konzepte oder Veranstaltungen zu streichen, für die keine nachweisbar positive Wirkung besteht. Neue Maßnahmen sollten nur eingeführt werden, wenn gleichzeitig eine bestehende Maßnahme entfällt.
  3. Auch die Schulverwaltung und die Bildungspolitik könnten zur Entlastung der Schulen beitragen, indem sie die verpflichtende Einführung sämtlicher Maßnahmen ohne belegte Wirksamkeit sofort stoppen. Schulen sollten empirische Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit und Unwirksamkeit schulischer Praktiken erhalten. Zudem könnten subtraktive Entwicklungsziele, etwa im Rahmen der externen Evaluation und Schulinspektion, eingeführt werden.

Nach Jahrzehnten des ständigen Hinzufügens braucht es endlich eine andere Perspektive. Was dem Schulsystem wirklich fehlt, ist der Mut zum Weglassen.


Title: Was Schulen fehlt, ist der Mut zum Weglassen
URL: https://deutsches-schulportal.de/expertenstimmen/was-schulen-fehlt-ist-der-mut-zum-weglassen/
Source: Das Deutsche Schulportal
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Date: March 31, 2025 at 11:33AM
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