Der heutige Beitrag ist inspiriert durch ein Gespräch, das ich mit Yves Karlen führen durfte. Ihr findet es als Dialekt-Podcast hier.
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In vielen Diskussionen deuten Gesprächspartner:innen an, die Forderung nach der Abschaffung von Noten sei nicht zielführend, weil es sich um eine utopisch, politisch nicht realisierbare Vorstellung handle. Wichtiger seien Kompromisse, umsetzbare Vorschläge, welche Entwicklungen von Schulen ermöglichen würden.
Dieser Kritik kann ich den Punkt abgewinnen, dass tatsächlich aufgezeigt werden sollte, was realistische nächste Schritte sind, die politisch annehmbar sind. Gleichwohl werde ich weiterhin den Standpunkt vertreten, dass gute Schulen auf eine Beurteilung der ,Leistungen‚ von Schüler:innen nicht nur verzichten sollten, sondern verzichten müssen. Die Gründe dafür verrate ich am Schluss des heutigen Newsletters – zunächst möchte ich die zwei denkbaren Schritte zeigen.
- Grössere Beurteilungsräume
Mit dem Stichwort ‚Jahrespromotion‘ beginnen Gymnasien in der Schweiz, von zwei Zeugnissen pro Jahr zu einem zu wechseln. Das ist ein sinnvoller Schritt: Denkbar wären auch Zweijahreszeugnisse. Sobald die Beurteilung längere Zeiträume umfasst, wird sie besser: Sie hängt weniger stark von Zeitdruck ab, kann sich auf längerfristige Lernprozesse beziehen und gibt die Chance, eine zeitgemäße Fehlerkultur aufzubauen. - Alternative Beurteilungsformate
Behörden und Schulleitungen können von Lehrpersonen verlangen, neben klassischen Prüfungen auch sogenannte ,alternative Leistungsbeurteilungen‘ durchzuführen. Dazu gehören projektbasierte Arbeiten und Leistungsnachweise in einem umfassenderen Sinne (Hilfestellungen für Interessierte finden sich auf der Seite vom Institut für eine zeitgemäße Prüfungskultur).
Diese Beurteilungsformate lösen sich von problematischen Beschränkungen wie Closed-Book-Settings, Vereinzelung und einseitig vorgegebene Mediennutzung und lassen Schüler:innen Arbeiten unter realistischen Bedingungen schreiben. Auch das nimmt Druck und verringert Benachteiligungen von Schüler:innen, die mit der traditionellen Prüfungskultur schlecht zurecht kommen. Alternative Formen der Beurteilung sind auch Einladungen, Reflexion und formativem Feedback mehr Gewicht als Noten zu geben.
Ich erwarte, dass diese Schritte an vielen Schulen im deutschsprachigen Raum in den nächsten 10 Jahren erfolgen werden. Sie sind die Basis für weiterführende Entwicklungen, mit denen Ungrading voranschreiten kann. Insbesondere alternative Formen der Beurteilung werden Lernenden und ihren Begleitpersonen deutlich machen, dass Noten weniger wichtig sind, als sie denken.
Warum verlange ich, dass sich Lehrpersonen und Schulen ganz von Noten lösen, wenn das nicht realistisch ist und wenn es dafür keine Mehrheit unter Lehrenden oder unter der Bevölkerung gibt?
Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens lösen sich die mit Noten verbundenen Probleme und Widersprüche im Schulsystem nicht auf, wenn Noten weiter vergeben werden (und Beurteilungen insgesamt, wir reden nicht davon, Noten durch Sätze oder Farben oder Emojis zu ersetzen, sondern ganz auf sie zu verzichten). Gemeint ist damit etwa der Rollenkonflikt, dass Lehrpersonen einerseits Schüler:innen fördern sollen, sie gleichzeitig aber auch im Rahmen von wichtigen Selektionsentscheiden beurteilen sollen. Das führt zu einem fundamentalen Rollenkonflikt, der sich nicht auflösen lässt und der mit einer Reihe psychologischer Probleme verbunden ist. Dasselbe gilt auch fürs Lernen an Schulen, das immer einseitig an Notenvergabeprozessen orientiert sein wird, solange es Noten gibt. Nur eine Abschaffung von Noten kann Schulen diesbezüglich entscheidend voranbringen. Es gibt keine sinnvolle Kompromisse: entweder können Schüler:innen ohne selektionierende Beurteilungen lernen oder sie können das nicht.
Zweitens arbeite ich daran, das Overton-Window in der Bildungspolitik zu verschieben. Das Overton-Window bezeichnet das, was politisch verhandelbar ist. In Bezug auf die US-amerikanische Politik stellt man das mit zwei Polen so dar:
Wenn ich mich auf die Ungrading-Thematik beziehe, dann gibt es nur einen Pfeil. Was meine Position bewirkt, dass eine leichte Verschiebung des Fensters in diese Richtung, weil deutlich wird: Eine Fachperson, ein Lehrer, ein Dozent für Deutschdidaktik, fordert ernsthaft und in Publikationen, auf Noten ganz zu verzichten. Dadurch wird das zumindest eine entfernte Option und andere, weniger radikale Entwicklungsschritte erscheinen pragmatisch und sinnvoll. Würde ich mich für diese Entwicklungsschritte einsetzen, dann wären das möglicherweise weiterhin extrem progressive Forderungen.
Meine Position zieht das Overton-Fenster (im Bild orange hinterlegt) nach rechts und macht Veränderungen möglich, die so vor ein paar Jahren noch undenkbar gewesen werden. Das ist nur möglich, weil viele andere Menschen ähnlich denken und ähnliche Positionen einnehmen – es geht hier nicht um mich spezifisch, sondern um die Funktion einer radikalen Position und Forderung im Ungrading-Prozess.
Title: Was sind realistische Schritte? (Und warum ich einen radikalen Verzicht auf Noten fordere.)
URL: https://beurteilung.ghost.io/was-sind-realistische-schritte-und-warum-ich-einen-radikalen-verzicht-auf-noten-fordere-2/
Source: Beurteilung & Unterricht
Source URL: https://beurteilung.ghost.io/
Date: December 22, 2024 at 11:21AM
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