Auf knapp 180 Seiten zeichnet Walter Kasper sein Leben unter dem Titel "Der Wahrheit auf der Spur" als Professor, Bischof von Rottenburg-Stuttgart und Kurienkardinal nach. Dabei streift er viele theologische Fragestellungen, portraitiert knapp das theologische Denken von Zeitgenossen wie Karl Rahner, Johann Baptist Metz und Joseph Rahner. Der Gefahr, sich im Klein-klein vergangener Debatten zu verlieren, erliegt Kasper aber nicht. Stattdessen stellt er die großen Linien der Kirchenentwicklung im 19., 20. und 21. Jahrhundert dar.
Starke Mitte ohne Extreme
Sein Ton ist im gesamten Buch versöhnlich, durchaus mit Verständnis für die Haltung der Gegenseite. Dies versteht er aber nicht im Sinne einer unentschlossenen, eigenen Position: "Die Mitte zu halten, verlangt geistige Spannkraft, um die Spannung zwischen den Extremen auszuhalten. Die Extreme in ihrer Einseitigkeit sind demgegenüber das Leichtere." Geistige Kraft dagegen sei nötig, um das Wahre und Gültige beider Seite zusammenzuhalten. Die Polarisierung in der Kirche sieht Kasper mit großer Sorge, als großer theologischer Denker wendet er sich gegen Vereinfachungen jeglicher Art.
Nachtreten oder persönliche Abrechnungen sind dabei überhaupt nicht der Stil von Walter Kasper. Schon ganz zu Beginn des Buchs betont der 92-jährige, dass es ihm nicht darum geht, persönliche Konflikte noch einmal aufleben zu lassen. Natürlich war er beim Streit um Hans Küng und dessen Entzug der theologischen Lehrerlaubnis hautnah dabei, ebenso hatte er theologische Dispute mit Joseph Ratzinger. Doch Kasper geht es um eine nüchterne Beschreibung, wie er die Probleme aus seiner Sicht erlebt hat; er zeigt die Konfliktlinien auf, legt die Argumente von beiden Seiten dar.
Kein Nachtreten
Eine Parallele zum späteren Papst Benedikt und dessen Biographie fällt zu Beginn des Buches auf. Beide wachsen in zutiefst katholisch geprägten Familien auf, Ratzinger in Bayern, Kasper im heutigen Baden-Württemberg.
Das Leben folgt dem Kirchenjahr, tägliche Gebete, häufige Gottesdienste und auch die Musik spielen eine große Rolle in Kindheit und Jugend. Wie der sechs Jahre ältere Joseph Ratzinger hat Kasper viele konkrete Erinnerungen an die Schrecken der Nazi-Zeit, erlebt die Familie als Gegenpol in finsteren Zeiten.
Und doch will Kasper nicht zu viel von sich erzählen, seine Berufung zum Priester etwa beschreibt er eher knapp, ausführlicher wird der ehemalige Professor für Dogmatik vor allem bei der Schilderung der verschiedenen theologischen und philosophischen Probleme, mit denen er sich als Student, Dozent und dann Professor auseinandersetzte.
Das ist zweifellos eine Stärke des Buches, dass Kasper kompakt zum Beispiel die verschiedenen Erneuerungsströme innerhalb der Kirche im 19. und 20. Jahrhundert darstellen kann. Erheblich mehr Konzentration nötigt er den Leserinnen und Lesern bei der Skizzierung seiner Promotion und Habilitation oder bei seinen theologischen großen Werken wie "Jesus der Christus oder "Der Gott Jesu Christi" ab.
Als Theologe hat er gleich drei verschiedene kirchliche Erfahrungswelten detailliert kennengelernt, die er in dem Buch darstellt. Als Professor die akademische Theologie, als Bischof die Leitung einer Diözese mit all der damit verbundenen Verantwortung und als Kurienkardinal dann den Vatikan von innen heraus, zunächst als Sekretär und schließlich als Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen und der religiösen Beziehungen zum Judentum.
Drei unterschiedliche Päpste hautnah erlebt
Seine Fähigkeit, das Verbindende der unterschiedlichen Position zu sehen, ermöglichte ihm sicher auch, in Rom mit so unterschiedlichen Päpsten wie Johannes Paul II., der ihn nach Rom holte und später zum Kardinal ernannte, Benedikt XVI. und dem jüngst verstorbenen Papst Franziskus zusammenzuarbeiten. Vor allem letzterer berief sich mehrfach auf Kaspers theologisches Denken, etwa auf dessen Buch "Barmherzigkeit".
Es ist faszinierend zu lesen, wie Kasper die Stärken und Schwächen der jeweiligen Päpste aus seiner Sicht darlegt, wie er etwa Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. als großen Theologen würdigt, ohne Unterschiede zwischen ihm und dem verstorbenen Papst kleinzureden. Ähnlich spannend ist es, wie er die unterschiedlichen kirchlichen Strömungen vor allem in der Phase nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil beschreibt oder berichtet, dass Themen, die vor kurzem kontrovers beim deutschen Synodalen Weg besprochen wurden, bereits in den 1970er Jahren in Europa Gegenstand von heißen Diskussionen waren.
Ähnlich spannend sind seine Beschreibungen, wie er sich immer wieder in seinem Leben auf neue, teilweise sehr unterschiedliche Aufgaben – etwa im Bereich der Ökumene ("Ökumene ist kein Schreibtischgeschäft") – einstellen musste. Beim Thema Frauen in der Kirche bekräftigt Kasper seine persönliche Meinung, dass das Ständige Diakonat für Frauen geöffnet werden sollte.
Missbrauch kaum ein Thema
So unterhaltsam im besten Sinne und – für einen solchen Kirchenmann von Rang kaum verwunderlich – theologisch fundiert das knapp 180 Seiten starke Buch zu ganz unterschiedlichen Themen wie Ekklesiologie, Ökumene oder Synodalität daherkommt, so rätselhaft randständig bleibt doch das Thema sexualisierte Gewalt und geistlicher Missbrauch.
Schaut man, wie groß die Verletzungen bei Missbrauchsbetroffenen waren und sind, wie viel Schuld Bischöfe, Priester und Personalverantwortliche in deutschen Bistümern auf sich geladen haben, so ist der knappe Raum, den das Thema einnimmt, doch ärgerlich. Gerade von einem so erfahrenen und weit gereisten Kurienkardinal wäre es doch wichtig gewesen, seine vielleicht auch selbstkritischen Gedanken (immerhin war Kasper zehn Jahre Diözesanbischof) ausführlicher als geschehen zu formulieren.
Dennoch ist das Buch spannend zu lesen und stellt für Kircheninteressierte einen kompakten Überblick über die Entwicklungsströme der Katholischen Kirche der vergangenen 80 Jahre dar. Ganz ohne theologische Vorkenntnisse sollten die Leserinnen und Leser nicht sein, dann aber ist "Walter Kasper: Mein Weg in Kirche und Theologie" ein faszinierender Blick in die Gegenwart und Vergangenheit der Katholischen Kirche mit all ihren Höhen und Tiefen.
INFO:
"Der Wahrheit auf der Spur. Mein Weg in Kirche und Theologie" von Walter Kardinal Kasper, Verlag Herder, Erscheinungsdatum: 10.06.2025
ISBN 978-3-451-02503-7
Preis Hardcover: 24 Euro
Title: Weder Abrechnung noch Schönfärberei / Der ehemalige Kurienkardinal Walter Kasper blickt auf sein Leben
URL: https://www.domradio.de/artikel/der-ehemalige-kurienkardinal-walter-kasper-blickt-auf-sein-leben
Source: DOMRADIO.DE – Der gute Draht nach oben
Source URL: https://www.domradio.de/
Date: June 9, 2025 at 12:20PM
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