DÜSSELDORF. Mit seiner scharfen Kritik an Lehrkräften hat PISA-Koordinator und OECD-Direktor Professor Andreas Schleicher die Pädagoginnen und Pädagogen in Deutschland gegen sich aufgebracht (News4teachers berichtete). Im Interview mit News4teachers verteidigt er seinen Standpunkt: Lehrerinnen und Lehrern stehen hierzulande auch in den vorgegebenen Grenzen Möglichkeiten zur Verfügung, Veränderungen im Bildungssystem anzustoßen. „Und genau hier ist Kreativität gefragt“, sagt Schleicher. Impulse, wie sich diese Freiräume nutzen lassen, könnten Lehrkräfte bei Kolleginnen und Kollegen in anderen Ländern finden – zum Beispiel China. Teil 1 des Interviews mit dem streitbaren Bildungsexperten.

News4teachers: Sie haben in den letzten Wochen ordentlich Schlagzeilen gemacht, mit einer scharfen Kritik an Lehrkräften. Sie haben sich damit unter Lehrkräften – wie man im Leserforum von News4teachers sehen kann – nicht allzu viele Freunde gemacht. War das aus Ihrer Sicht hilfreich, um die Bildung in Deutschland voranzubringen? Ich meine, die Philologen haben sogar einen Ausstieg aus PISA gefordert, solange Sie die Studie koordinieren.
Andreas Schleicher: Sicherlich nicht. Aber es geht darum, dass man die PISA-Resultate analysieren muss. Und man muss einfach sehen, dass es in Deutschland seit einigen Jahren bergab gegangen ist. Dafür kann man natürlich nicht einzelne Lehrkräfte verantwortlich machen, das wollte ich mit meiner Kritik auch nicht sagen, aber irgendwie muss man alle Größen, die in dieses Ergebnis reinspielen, in den Blick nehmen. Darum geht es: dass man eine offene Debatte führt. Wo hapert es? Wo kann man Dinge verbessern? Und das Gute ist doch, dass wir solche Diskussionen heute auf einer empirischen Grundlage führen können. Wie gesagt, es geht mir nicht um einzelne Personen, es geht eher um das Berufsfeld insgesamt in Deutschland.
News4teachers: Sie haben in einem Interview Lehrkräfte als Befehlsempfänger bezeichnet, die statisch einen Lehrplan abarbeiten würden. Nun sind Lehrerinnen und Lehrer ja weisungsbefugte Beschäftigte, die nicht tun können, was sie wollen. Muss die Forderung, mehr Freiräume zu schaffen, dann nicht an die Politik gehen – anstatt an die Lehrkräfte?
Schleicher: Ich glaube, das Endergebnis muss sein, dass es irgendwann an der Frontlinie sozusagen mehr Kreativität und mehr Individualisierung gibt. Darum geht es. Und ja, dafür kann die Politik etwas tun, indem sie dort mehr Freiräume schafft. Es gibt ja viele Nachbarländer, zum Beispiel Dänemark oder die Niederlande, wo das der Fall ist. Aber ich glaube eben auch, man braucht Leute, die diese Freiräume dann auch mit Mut und Verantwortung ausfüllen. Und daran, das muss man offen sagen, hapert es oft. Es gibt viele Schulen und auch Lehrkräfte, die die Freiräume, die sie haben, nicht ausreichend nutzen.
News4teachers: Sie sagen, es gibt bereits Freiräume. Aber muss man nicht auch konstatieren, dass die Lehrpläne in Deutschland womöglich zu voll sind?
Schleicher: Ja, absolut. Und die PISA-Resultate zeigen, dass die deutschen Schülerinnen und Schüler gut sind beim Abfragewissen. Es wird oberflächlich gelernt, aber das Tiefenverständnis fehlt häufig. Es wäre also wichtig, dass man weniger Stoff in größerer Tiefe vermittelt. Das muss das Ziel sein. Aber noch einmal: Auch dort gibt es für Schulen durchaus schon jetzt Gestaltungsfreiräume, wie man die Lehrpläne umsetzt, wie man sie einsetzt. Und genau hier ist Kreativität gefragt. Wenn ich eine bestimmte Schülerschaft habe, geht es doch immer um die Frage, wie ich den Unterricht für diese Schüler relevant und interessant machen kann. Und der Lehrplan gibt da den Rahmen vor, okay. Das ist ja auch wichtig. Aber wie ich diesen Rahmen ausfülle, das liegt an den Lehrkräften vor Ort. Und man kann in anderen Ländern sehen, dass dort anders mit solchen Rahmen und Vorgaben umgegangen wird.
„Ein Bildungssystem, das im Grunde offener mit den Herausforderungen umgeht, ist auf lange Sicht erfolgreicher.“
News4teachers: Wie meinen Sie das genau? An welche Länder denken Sie dabei?
Schleicher: Ich war im Februar in China unterwegs. Das ist in Deutschland ja kein so beliebtes Vergleichsland. Aber wenn Sie sich anschauen, was dort an projektorientiertem und auch digital gestütztem Lernen passiert, das ist schon spannend. Und in jeder Schule sehen Sie etwas anderes. Ich habe mit einer Schulleiterin gesprochen, die einfach alle Stundenpläne abgeschafft hat. Ich habe sie gefragt, ob sie denn eine Genehmigung dafür bekommen habe. Und sie sagte mir: ‚Wissen Sie Herr Schleicher, in China sind viele Sachen nicht erlaubt, aber viele Sachen sind auch nicht verboten. Und in dieser Grauzone können wir doch alles machen.‘ Es geht letztlich um die Resultate. Und wenn jemand eine Idee hat, wird er dafür auch angesehen. Deshalb verändern sich Dinge. Und davon würde ich mir einfach in Deutschland mehr wünschen. Wie gesagt, ich mache da keine einzelne Person für verantwortlich. Aber ein Bildungssystem, das im Grunde offener mit den Herausforderungen umgeht, ist auf lange Sicht erfolgreicher. Natürlich, die Herausforderungen werden schwieriger. Niemand bestreitet, dass der Lehrerberuf jeden Tag anspruchsvoller wird. Die Gesellschaft verändert sich. Die Herausforderungen verändern sich. Aber genau darauf müssen moderne Schulen eingehen.
News4teachers: Aber heißt das nicht auch, dass sich das Team, das Kollegium ändern muss? Braucht es für diese Herausforderungen nicht multiprofessionelle Teams?
Schleicher: Das ist eine interessante Frage. Es gibt dazu unterschiedliche Meinungen. Es ist sehr schwer, das empirisch zu bewerten. Aber ich gebe Ihnen mal ein Beispiel aus England. Vor circa 15 Jahren haben sich dort alle beklagt, dass sie mit den sozialen Schwierigkeiten der Schülerinnen und Schüler nicht zurechtkommen. Die Forderung war, Hilfskräfte und Sozialarbeiter in die Klassenzimmer zu holen. Tony Blair hat das dann umgesetzt und in jede Klasse einen ‚Teaching Assist‘ gebracht. Der nimmt den Lehrkräften in England Arbeit ab, dafür müssen die ein bisschen mehr unterrichten. Aber sie müssen sich eben nicht mehr um die schwierigen Kinder kümmern sozusagen. 15 Jahre später sind die Klagen gestiegen, die Unzufriedenheit der Lehrkräfte mit ihrem Job gewachsen. Die Leistungen haben sich nicht verbessert. Was kann man also konstatieren? Im Grunde hat jeder die Verantwortung auf jemand anderen geschoben und letztendlich ist das Arbeitsfeld Lehrkraft unattraktiver geworden. Der Eindruck der Lehrer ist, ich bin nur noch da, um Unterrichtsstunden abzuleisten. Ich kümmere mich nicht mehr um die einzelnen Kinder, ich weiß nicht mehr, wer der einzelne Schüler ist, was er werden will, wie ich ihn oder sie bestmöglich begleiten kann. Und dann schauen wir nach Japan: Da machen die Lehrkräfte nicht nur die Sozialarbeit, sondern sie machen auch das Schulhaus mit ihren Schülern sauber, kochen das Mittagessen mit ihnen und so weiter. Dafür unterrichten sie deutlich weniger als Lehrkräfte in Europa. In Japan verstehen sich Schüler und Lehrer als Team, sie kennen einander und die Schule ist das gemeinsame Projekt. Darin sind auch die Eltern involviert. Die Lehrkräfte kennen also das soziale Umfeld der Schüler. Darin unterscheiden sich unser und das japanische Bildungssystem wirklich. Es wird ja gerne gesagt: ‚Ja, die kommen ja auch aus einer anderen Kultur‘. Aber darum geht es in diesem Fall nicht.
News4teachers: Es geht also um Beziehungen.
Schleicher: Ja. Vertrauen entsteht durch Beziehung. Und die Qualität der Beziehung entscheidet zum einen ganz wesentlich über den Erfolg der Bildung und zum anderen über die Zufriedenheit mit dem Job. Auch die Arbeit im Kollegium ist in Japan eine ganz andere, das spielt zusätzlich da rein. Also die Idee, dass multiprofessionelle Teams die Lösung sind, die ist nicht so offensichtlich, wie man denkt. Ja, es gibt einige Länder, die das so machen, einige auch mit Erfolg. Aber ich sehe eine große Gefahr, dass wir dadurch noch mehr Fließbandarbeit bekommen. Noch mehr Isolierung und die Leute am Ende nicht zufriedener sind und auch keine bessere Arbeit leisten. Denn auch das muss man sagen: Im Moment mag in der Schule die Wissensvermittlung vielleicht noch im Vordergrund stehen, aber das wird uns die Technik immer mehr abnehmen – und besser machen, das muss man ehrlich sagen. Was übrig bleibt ist, dass ich als Lehrkraft ein guter Coach sein muss und meine Schüler wirklich kennen muss, um sie auf ihrem eigenen Weg zu begleiten. Ich muss verstehen, wer diese Kinder sind, wer sie sein wollen, wo ihre Stärken liegen. Das ist im Grunde Kern des Lehrerberufs. Und wenn das zu kurz kommt, indem bestimmte Berufsaufgaben ausgelagert werden, dann verlieren am Ende im schlechtesten Fall alle.
News4teachers: Wie sieht es denn mit dem Bereich Verantwortung aus? Sollten Schulleitungen, sollten Lehrerinnen und Lehrer mehr Verantwortung bekommen? Kann man das empirisch belegen?
Schleicher: Ja, das kann man sehr klar sehen. Bildungssysteme, in denen mehr Verantwortung vor Ort ist und dort auch wahrgenommen wird, sind in der Regel leistungsfähigere Bildungssysteme.
„So etwas kann Schule nicht ausgleichen.“
News4teachers: Und wie sieht es mit der Verantwortlichkeit von Eltern aus? Sie haben in einem anderen Interview einen interessanten Satz gesagt: dass wir lange zu naiv waren und die Rolle der Eltern bei der Förderung von Schülerinnen und Schülern unterschätzt haben. Was bringt Sie zu dieser Schlussfolgerung und was lässt sich daraus machen
Schleicher: Das ist im Grunde eine Beobachtung über viele Jahre. Wir haben eigentlich jahrzehntelang darauf gesetzt, dass die Schule Dinge ausgleicht, die von zu Hause nicht kommen. Und dass die Schule das Elternhaus in gewissem Sinne ersetzen kann. Das war ja auch gut gemeint, weil viele Eltern eben nicht alles leisten können. Oder wollen. Da entstehen dann Defizite, um die sich die Schule kümmern soll. Aber das funktioniert leider nicht wirklich. Die Daten zeigen, dass Kinder aus einem Elternhaus, in dem sie bis Mitternacht mit ihren Smartphones spielen dürfen, am nächsten Tag in der Schule eben Schwierigkeiten haben. Das können Sie als Schule nicht kompensieren. Oder wenn Eltern zu Hause sagen: ‚Ach, was der Lehrer sagt, das ist ja nicht so wichtig.‘ Oder: ‚Bei mir hat die Schule auch nichts gebracht.‘ Dann kann man von den Schülern nicht erwarten, dass sie die Autorität der Lehrer anerkennen und sich anstrengen. Sprich: So etwas kann Schule nicht ausgleichen.
News4teachers: Was folgt daraus?
Schleicher: Der einzige Weg ist – und das sieht man eben auch im internationalen Vergleich – die Eltern mit in das Boot zu holen. Und dazu muss sich die Schule ganz anders aufstellen und einsetzen, als das heute der Fall ist. Wenn Sie zum Elternabend aufrufen, dann kommen nicht die, die Sie bräuchten. Deswegen muss die Schule auf das Elternhaus zugehen – und das kostet Zeit, das kostet Aufwand. Aber diese Beziehungsarbeit entscheidet im Grunde darüber, wie erfolgreich Kinder gerade aus benachteiligten sozialen Schichten in der Schule sind. Pisa hat auch gezeigt, dass die Frage ‚Wie war es heute in der Schule‘ mehr den Bildungserfolg eines Kindes bestimmt als das Einkommen der Eltern. Und dieses Ergebnis macht doch Mut, denn das Einkommen der Eltern können Sie kurzfristig nicht verändern, aber die Einstellung der Eltern zur Bildung ihrer Kinder, die können Sie verändern. Indem Sie eben tragfähige Beziehungen aufbauen. Und diese Beziehung darf sich nicht auf die Probleme in der Schule beschränken, sondern es geht da wirklich um gemeinsame Erziehungsaufgaben.
News4teachers: Haben Sie dafür auch ein Beispiel, wenn Sie sagen, dass lässt sich mit Daten belegen?
Schleicher: In der OECD-Studie Talis haben wir für Kindergärten nachgefragt, wie die Beziehung zu den Eltern ist. In Norwegen haben die Erzieherinnen gesagt: ‚Wir dürfen uns nicht bei den Familien einmischen, das ist doch Privatsache. Und dafür sind wir nicht verantwortlich, wir können nicht die Defizite der Gesellschaft ausgleichen.‘ Die Einstellung in Deutschland ist ähnlich. Das Ergebnis kennen wir. Anders in Israel: Dort haben fast alle Erzieherinnen gesagt: ‚Ja, natürlich arbeiten wir mit den Eltern und versuchen, eine Beziehung aufzubauen. Denn wenn Kinder nur vor dem Fernseher sitzen, kann ich hier meine Arbeit nicht machen. Also muss ich mich drum kümmern, was zu Hause in den Familien passiert.‘ Und ich glaube, davon brauchen wir mehr. Natürlich weiß ich, dass man dafür wieder mehr Zeit benötigt. Aber letztlich ist der Gewinn sehr viel größer als der Einsatz. Und das zeigen uns auch praktisch alle im internationalen Vergleich erfolgreiche Bildungssysteme.
Leider sehen wir gerade einen Trend zur Kommodifizierung von Bildung. Sprich die Schüler werden zu Konsumenten von Lehrplänen. Die Lehrkräfte werden so zu Dienstleistern. Die Eltern zu Kunden. Und das ist das Problem unseres Bildungssystems, nicht die Lösung. Denn da entsteht diese Distanz zwischen allen Beteiligten, die Sie nur schwer überbrücken können. Und dann weist auch jeder die Schuld dem anderen zu, wenn etwas schiefläuft. Also nochmal: Ich glaube, in Bezug auf die Eltern brauchen wir eine ganz andere Herangehensweise. Wir müssen Familien wirklich beteiligen, das Bildungssystem muss sich öffnen. Schulen sind immer gut darin, die Schüler drin zu behalten und den Rest der Welt draußen. Aber das funktioniert in unserer heutigen Zeit nicht mehr. Spätestens mit den ganzen digitalen Technologien ist diese Einstellung überholt.
News4teachers: Ist das das eigentlich ein Appell für ein Privatschulsystem à la Niederlande?
Teil zwei des Interviews erscheint in den nächsten Tagen auf News4teachers.
News4teachers / Laura Millmann und Andrej Priboschek, Agentur für Bildungsjournalismus, führten das Interview.
Gastkommentar zur PISA-Debatte: Warum die Personalie Schleicher nicht das Kernproblem ist
Title: „Weniger Stoff in größerer Tiefe vermitteln – das wäre wichtig!“ PISA-Chef Schleicher im News4teachers-Interview
URL: https://www.news4teachers.de/2024/03/vorbild-china-lehrkraefte-sollen-freiraeume-mehr-nutzen-ein-interview-mit-pisa-chef-schleicher/
Source: News4teachers
Source URL: https://www.news4teachers.de
Date: March 4, 2024 at 05:48PM
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