Wie Gymnasien zukunftsfähig bleiben – 7 Forderungen

Wie können Gymnasien zukunftsfähig bleiben? Über diese Frage habe ich auf Einladung der Neuen Kantonsschule Aarau nachgedacht. Vor mir hat Roland Reichenbach referiert. Während er eher eine Analyse der Fragestellung und eine Bestimmung von Bildung und Schule vorgenommen hat, habe ich sieben Forderungen formuliert, die ich hier auch schriftlich ausführen möchte.

Warum stellt sich diese Frage?

Gymnasien sind sehr beliebt, bei Eltern und Schüler:innen stehen die gymnasialen Angebote hoch im Kurs. Statistisch lässt sich keine Krise der Gymnasien ausmachen, die Probleme zeigen sich erst, wenn man betrachtet, wie Gymnasien genutzt werden und wie ihre Angebote funktionierten.

Abb. 1: Angebote und Nutzung der Gymnasien zum Verständnis ihrer Probleme

Zu viele Schüler:innen zwingen sich durch die gymnasialen Schulen. Ihre Stimmung ist nicht gut, sie erfüllen nicht das Profil der gymnasialen Schüler:innen – entweder sind sie nicht in der Lage, im angebotenen Setting produktiv zu arbeiten, oder sie nehmen bestimmte, nicht-fakultative Angebote nicht wahr (Sprachen lernen, abstrakt denken, ästhetische Bildung, lesen, debattieren etc.). Spricht man mit diesen Schüler:innen, dann verweisen sie erstens auf den Abschluss, der ihnen viele Türe öffne, weswegen sie die Bildungserfahrung zu einer Ausbildung abstufen, zweitens auf den Zugang zu einer beruflichen Elite und drittens auf die fehlenden Alternativen: Viele Jugendliche möchten weiterhin mit anderen Jugendlichen Zeit verbringen und sind nicht bereit, in einer beruflichen Ausbildung mit Erwachsenen zu arbeiten.

Diese Schwierigkeiten bei der Nutzung stehen Mängel beim Angebot gegenüber: Gymnasien bieten zu wenig Individualisierung an, gerade im Vergleich mit den nicht-gymnasialen Schulen. Sie sind geprägt vom 7G-Format, bei dem ganze Klassen gleich behandelt werden, obwohl gerade auch an Gymnasien eine grosse Heterogenität vorhanden ist, der mit traditionellen Methoden nicht begegnet werden kann. Die einzigen Möglichkeiten zur Individualisierung sind Selektion (gymnasial/nicht-gymnasial), die Wahl von Vertiefungsfächern oder Profilen sowie Wahlpflichtfächer. Damit lassen sich die Differenzen zwischen den Lernenden nicht hinreichend berücksichtigen.

Hinzu kommt das Problem der Fächer. Die bereits enorme Zerstückelung in in Fächer wurde in der Schweiz mit dem Projekt WEGM weiter vorangetrieben. Innovation an Gymnasien beschränkt sich oft darauf, neue Fächer einzufügen und bestehenden Fächern entsprechend Lektionen wegzunehmen. Bei festgelegter Lernzeit kann eine veränderte Aufteilung oder Beschreibung von Fächern wenig bewirken, zumal letztlich für eine vertiefte Auseinandersetzung in einem Fach immer die Zeit fehlt. Gymnasiast:innen sind aufgrund der systemischen Beschränkungen kaum nicht in der Lage, ein relevante fachliche Fragestellungen zu verstehen.

Abb. 2: Entwicklung der Fächer an Schweizer Gymnasien

Der letzte Punkt ist die Prüfungs- und Notenkultur, die ebenfalls oberflächliches Lernen erzwingt und mit Anreizen befördert. Viele Gymnasiast:innen bereiten sich permanent auf die nächste Prüfung vor und verpassen alles, was sonst läuft.

Angesichts dieser Probleme stelle ich folgende Forderungen, die aus meiner Sicht etwas bewegen würden.

1. Gemeinsames Lernverständnis von Schüler:innen und Lehrpersonen

Eine zukunftsfähige Schule braucht ein geteiltes Verständnis darüber, wie Lernen funktioniert. Lehrpersonen und Lernende sollten gemeinsam reflektieren, wie Wissen erworben, vertieft und angewendet wird. Nur so können Lernprozesse transparent und wirksam gestaltet werden. Die Förderung von Metakognition und Selbstreflexion sollte Grundpfeiler gymnasialer Bildung darstellen – heute fristet sie ein Schattendasein.

Eine mögliche Orientierung stellt das 4C/ID-Modell dar, das etwa die neu zu gründende Kantonsschule Glattal als Grundlage verwendet.

Abb. 3: Darstellung des 4C/ID-Modells

Grundsätzlich spielt es aber keine Rolle, welches Modell gewählt wird – entscheidend ist, dass es ein gemeinsame Verständnis gibt und die oft über 10 Fachlehrpersonen nicht mit ganz unterschiedlichen Vorstellungen von Lernprozessen an Klassen herantreten, wie das heute der Fall ist.

2. Entwicklungsorientierung, Wahlmöglichkeiten und Verantwortung stärken

Abb. 4: Entwicklungsorientierung in der Darstellung von Lars Mecklenburg

Bei Barcamps bieten Teilnehmer:innen Workshops an, die andere dann auswählen können (oder auch nicht). Die Teilnahme ist locker, wer nicht mehr profitieren kann, darf in den nächsten Raum gehen oder auch einen Kaffee trinken. Entscheidend ist, dass jede Person so arbeiten kann, dass sie Fortschritte macht.

Diese Verantwortung für den eigenen Lernweg sollten Gymnasien auch ihren Schüler:innen anbieten können. Wahlmöglichkeiten im Curriculum und projektorientiertes Arbeiten fördern die individuelle Entwicklung und bereiten auf die Anforderungen einer komplexen, digitalen Welt vor.

Gymnasien müssen zunächst die Wissensorientierung und dann auch die Kompetenzorientierung so überwinden, dass sie Elemente eine übergeordneten Entwicklungsorientierung darstellen. Daraus würde sinnhaftes Lernen resultieren, das die Jugendlichen mit ihrer eigenen Persönlichkeit in Verbindung setzen können. Heute lernen sie zu stark entfremdet, fügen sich in eine Struktur ein, die sie zu oberflächlichem Studenting animiert.

Abb. 5: Wissens-, Kompetenzorientierung als Bestandteile der Entwicklungsorientierung

3. Prüfungsselektivität überwinden, ohne autoritäre Strukturen zu schaffen

Das in der Einleitung beschriebene Problem der Prüfungsselektivität meint, dass Schüler:innen alles ausblenden, was nicht mit einer Prüfung oder Bewertung zu tun hat. Ich habe hier ausführlicher darüber geschrieben, wie sich dieses Problem lösen liesse. Die Lösung hängt damit zusammen, was Schüler:innen als sinnvoll erachten, sie gibt ihnen Entscheidungs- und Wahlmöglichkeiten, nimmt sie aber auch in die Pflicht. Sie stellen andere ihre Entwicklung vor, statt von aussen geprüft zu werden.

Abb. 6: Prüfungsselektivität

4. De-Implementierung: Tiefe statt Breite

Durch das Weglassen von unnötigen oder unsinnigen Dingen entsteht die Möglichkeit, die essenziellen Dinge besser machen zu können. Und zu den essenziellen Dingen gehört auch die Regeneration von Beschäftigten.  

Dieses Zitat stammt aus dem neuen Buch Weniger macht Schule. Schulen sollten sich auf das Wesentliche konzentrieren, um nachhaltige Kompetenzen zu fördern und gleichzeitig Freiräume für Innovation und Regeneration zu schaffen. Ziel wäre eine tiefe Lernerfahrung, die viele breite Lerngelegenheiten ersetzt. Der Mut, los- und wegzulassen, fehlt vielen Schulen noch. Aufräumen und de-implementieren sollte zu einem Ritual werden: Am Ende jedes Schuljahres könnten Schulen gemeinsam beschliessen, einiges nicht mehr zu machen – um Raum für Tieferes zu schaffen.

5. Echte Schulprofile mit demokratischen Methoden entwickeln

Zukunftsfähige Gymnasien brauchen ein klares, individuelles Profil, das gemeinsam mit allen Beteiligten entwickelt wird. Demokratische Prozesse stärken die Identifikation mit der Schule und fördern eine lebendige, vielfältige Schulkultur.

Aktuell sind Profile oft ein Feigenblatt für Schulen, die Lernenden gar keine Wahlmöglichkeiten bieten. Schüler:innen werden Schulen zugeteilt oder wählen sie aufgrund des Schulwegs oder arbiträrer Gründe. Wenn Schulträger Verantwortlichen echten Handlungsspielraum geben, entstehen unterschiedliche Schulen, die nicht alle ungefähr dasselbe machen, sondern sich entfalten können. In unterschiedliche Richtungen.

6. Ganzheitliche Gestaltung der Rolle der Lehrperson

Lehrpersonen sind weit mehr als Fachvermittler:innen. Ihre Aufgaben umfassen Präsenz an der Schule, Pflege von Beziehungen, kollegialen Austausch und aktive Schulentwicklung. Flexible Anstellungsmodelle ermöglichen es, auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Schulgemeinschaft einzugehen. Dafür braucht es ein anderes Verständnis der Rolle und der Aufgaben. Gymnasiallehrpersonen sollten stärker so funktionieren, wie Lehrpersonen an der Grundschule: Gemeinsam betreiben sie eine Schule. Fachunterricht ist nur ein Puzzle-Stück davon. Nicht das einzige, nicht das wichtigste.

Abb. 7: Aufgaben der Lehrperson neben Fachunterricht

7. Unterschiedliche Lehrveranstaltungen neben dem Klassenunterricht

Gymnasien, die auf dem Weg in die Zukunft sind, erhöhen den Anteil an Veranstaltungen, die nicht eine Klasse während 45 Minuten in einem Klassenzimmer beschulen. Dafür gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, die laufend entwickelt werden sollten. Ein agiles Modell empfiehlt sich, weil da die Erfahrungen schnell in Entwicklungen verwandelt werden können.

Abb. 8: Beispiele für Lehrveranstaltungen neben Klassenunterricht

Fazit: Gymnasien zwischen Chancen und Herausforderungen

Abb. 9: SWOT-Analyse Gymnasien

Die SWOT-Analyse zeigt: Gymnasien verfügen über grosse Stärken – engagierte Lehrpersonen, Zeit für Entwicklung und spezifische Lernerfahrungen. Gleichzeitig bieten Digitalisierung und gesellschaftlicher Wandel Chancen, Bildung noch wichtiger zu machen. Gefahren liegen in der Konkurrenz durch alternative Bildungswege und den Herausforderungen neuer Technologien. Die Lösung: Gymnasien müssen ihre Profile schärfen, Fächergrenzen überwinden und eine Aufgabenkultur etablieren, die nicht dasselbe nahelegt, was die KI auch erledigen kann. Nur so bleiben Gymnasien Orte, an denen junge Menschen lernen, die Welt kritisch zu hinterfragen, Verantwortung zu übernehmen und ihre Zukunft aktiv zu gestalten.

Die Charta der Kantonsschule Uetikon fast viele gute Ideen zusammen, die aber erst in der Umsetzung einer Schulgemeinschaft lebendig werden können.


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Date: April 28, 2025 at 02:30PM
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