Wie Schulen auf Gewalt gegen Lehrkräfte reagieren sollen: Der Schulleitung kommt eine Schlüsselrolle zu

eine Frau vor weißem Hintergrund hält die ausgestreckte Hand vor Ihr Gesicht

MÜNCHEN. Wie sollen Schulen auf die zunehmende Gewalt gegen Lehrkräfte reagieren? Das Bayerische Kultusministerium hat dazu jetzt eine Handreichung herausgegeben, die deutlich macht: Auf die Schulleitung kommt es an. Sie muss handeln – dann, wenn etwas passiert ist. Aber auch schon im Vorfeld.

eine Frau vor weißem Hintergrund hält die ausgestreckte Hand vor Ihr Gesicht
Lehrkräfte werden offenbar immer öfter Opfer von Gewalt. Und die fängt nicht erst bei Straftatbeständen an. Foto: Shutterstock

Gewalt gegen Lehrkräfte ist in Schulen zwar nicht an der Tagesordnung. Allerdings scheinen sich die Fälle zu häufen. Der vorläufige Höhepunkt: Anfang des Jahres wurde eine Lehrerin in Ibbenbüren bei Münster im Klassenraum erstochen. Der mutmaßliche Täter, ein 17-jähriger Schüler, erhängte sich später in der Zelle des Untersuchungsgefängnisses (News4teachers berichtete). Ein krasser Einzelfall? Sicher – aber offensichtlich auch die Spitze eines Trends.

So berichteten in einer im November 2022 vom VBE veröffentlichten Umfrage zwei Drittel der befragten Schulleitungen von direkter psychischer Gewalt – etwa Beleidigungen, Bedrohungen oder Belästigungen – in den vergangenen fünf Jahren. 2018 hatten das „nur“ 48 Prozent der Leitungen angegeben. Ein Drittel der Befragten meldete aktuell, dass Lehrkräfte Opfer von Cyber-Mobbing wurden, also Diffamierung oder auch Nötigung im Internet – ebenfalls eine deutliche Zunahme. Und in einem weiteren Drittel der Schulen kam es zu gewalttätigen körperlichen Angriffen auf Lehrkräfte oder Schulleitungen.

„Gewalt im schulischen Alltag wird nicht nur dann erlebt, wenn es um die Verwirklichung von gesetzlich geregelten konkreten Straftatbeständen geht“

Die Umfrage war Anlass für das Bayerische Kultusministerium, einen Leitfaden herauszugeben, wie Schulen mit Gewaltvorfällen umgehen sollen. Die beginnen weit unterhalb von Mord und Totschlag. „Gewalt im schulischen Alltag wird nicht nur dann erlebt, wenn es um die Verwirklichung von gesetzlich geregelten konkreten Straftatbeständen geht. Es gibt Situationen und Verhaltensweisen, die zwar keinen Straftatbestand erfüllen, aber eine Grenzüberschreitung darstellen, die von den Betroffenen als Gewalt wahrgenommen werden und vom Dienstherrn auch eine Reaktion erfordern“, so heißt es in der Broschüre. „Die Grenze zu ‚lediglich‘ unangemessenem und unerwünschtem Verhalten sind dabei fließend und das subjektive Sicherheits- und Gewaltempfinden der Betroffenen spielt hier ebenfalls eine maßgebliche Rolle“.

Grundsätzlich gelte: „Ein Angriff auf eine Lehrkraft verlangt Solidarisierung. Im Vordergrund muss das individuelle Erleben von Gewalt durch die geschädigte Person und darauf aufbauend die Hilfestellung sein. Bei der Einordnung des Vorfalls durch nicht direkt am Vorfall beteiligte Personen z. B. Schulleitung, schulinternes Krisenteam, Beratungslehrkraft, Schulpsychologin bzw. Schulpsychologe, Fachkräfte sowie Kolleginnen und Kollegen sollte daher die Betrachtungsweise der geschädigten Person von zentraler Bedeutung sein.“

Während in Bayern schwere körperliche Übergriffe auf Lehrkräfte die Ausnahme sind, scheinen Fälle von psychischer Gewalt gegen Lehrkräfte im Internet – Cybermobbing – zuzunehmen. „Wenn bekannt ist, wer die Aufnahmen angefertigt und ins Internet gestellt hat, ist zunächst ein Gespräch unter mindestens sechs Augen zu empfehlen. Die betroffene Lehrerin oder der betroffene Lehrer sollte eine Kollegin oder einen Kollegen oder ein Mitglied der Schulleitung hinzuziehen und die Schülerin bzw. den Schüler in einem Gespräch dazu auffordern, die Aufnahmen aus dem Internet zu entfernen“, so heißt es. „Sollte sich die Schülerin bzw. der Schüler weigern oder sehr uneinsichtig zeigen, kann die Lehrkraft eine polizeiliche Anzeige in Betracht ziehen. Mögliche Gründe, die für und gegen eine Strafanzeige sprechen, sind hierbei gut abzuwägen.“

„Lehrkräfte müssen der vorbehaltlosen Unterstützung durch die Schulleitung gewiss und sich sicher sein, dass sie nicht allein gelassen werden“

Bei der Aufarbeitung von Gewaltvorfällen in Schulen kommt der Schulleitung eine Schlüsselrolle zu. „Sobald die Schulleitung von einem Gewaltvorfall erfährt, muss sie handeln. Lehrkräfte müssen der vorbehaltlosen Unterstützung durch die Schulleitung gewiss und sich sicher sein, dass sie nicht allein gelassen werden. Dies gilt nicht nur in Bezug auf Gewalttaten, die von Schülerinnen und Schülern ausgehen, sondern auch in Bezug auf Gewalthandlungen von Erziehungsberechtigten und sonstigen Dritten. Ebenso muss die Schulleitung Schutz und Hilfe anbieten, wenn es um Grenzüberschreitungen geht, die (noch) nicht als Straftaten einzuordnen sind. Aufgabe der Schulleitung ist es, gemeinsam mit allen an der Schule beteiligten Personen und Institutionen ein Klima des Vertrauens und eine Null-Toleranz gegenüber Gewalt an der Schule zu etablieren.“

Grundsätzlich sollte, so empfehlen die Expertinnen und Experten, sobald strafrechtliche Relevanz gesehen wird und das Gewaltopfer mit der Einleitung eines Strafverfahrens einverstanden ist, schon alleine aus Gründen der Fürsorge und der Generalprävention Strafanzeige und ggf. Strafantrag durch die Schulleitung gestellt werden. „Die Stellung von Strafanzeigen und Strafanträgen durch die Schule ist auch Ausdruck der Wertschätzung den Bediensteten gegenüber. Die betroffenen Lehrkräfte werden auch insofern entlastet, wenn ihnen möglichst viel vom Strafverfahren und dessen Vorbereitung abgenommen wird.“

Weiter heißt es: „Die Schulleitung signalisiert der betroffenen Lehrkraft aus einer grundsätzlichen Pflicht und Haltung der Fürsorge heraus Schutz und vollständige Rückendeckung. Sie bietet die sofortige Befreiung von der Unterrichtsverpflichtung für die nächsten Stunden an bzw. verfügt diese bei deutlich wahrnehmbaren Belastungsanzeichen. Dabei ist zu beachten, dass die Erstreaktionen nach Erleben einer Gewalttat sehr unterschiedlich sein können, von Sprachlosigkeit und Erstarrung über Rededrang und Übererregung bis hin zu scheinbarer Gefasstheit und Normalität. Die Schulleitung kümmert sich um die Information des Kollegiums und der Klassen.“

Parallel dazu sei es wichtig, die inner- und außerschulischen Unterstützungs- und Hilfestrukturen seitens der Schulleitung zu aktivieren, zu informieren und in den Fall einzubeziehen. „Die Schulpsychologin bzw. der Schulpsychologe kann Ansprechpartnerin bzw. Ansprechpartner für die Schulleitung, die betroffene Lehrkraft, das gesamte Kollegium sowie für Schülerinnen bzw. Schüler und deren Erziehungsberechtigten sein. Darüber hinaus sollten Mitglieder der Personalvertretung für die Lehrkräfte, Vertrauenslehrkräfte für die Schülerinnen bzw. Schüler und Vertreterinnen bzw. Vertreter der Jugendhilfe bzw. Jugendsozialarbeit (und ggf. Schulsozialpädagoginnen bzw. Schulsozialpädagogen) für die Erziehungsberechtigten und die Schülerschaft zur Verfügung stehen. In welchem Umfang dies geschieht, ist von der jeweiligen Konstellation des Falls abhängig.“

Wenn die Gewalt von einer Schülerin oder einem Schüler ausgegangen ist, so wird empfohlen, sie oder ihn unter Aufsicht von zwei Lehrkräften in einen vom Ort des Geschehens entfernten „Raum zum Abkühlen“ zu bringen. „Hier ist es wichtig, eine ruhige, ungestörte Atmosphäre herzustellen, auf eine angemessene Distanz zu achten und die Schülerin bzw. den Schüler nicht mit Vorwürfen zu konfrontieren oder durch Fragen Hintergründe und Erklärungen für den Übergriff zu erforschen versuchen. Ggf. kann es für die Schülerin bzw. den Schüler hilfreich sein, sich zu bewegen oder eine sie bzw. ihn ablenkende Tätigkeit (Schreiben, Malen, Blättern in Büchern) zu ermöglichen.“ Schulrechtliche Konsequenzen seien erst nach Prüfung des Vorfalls durch
die Schulleitung anzusetzen und nicht zu präjudizieren.

Am besten aber kommt es gar nicht erst zu Gewaltvorfällen – was sich durch präventive Maßnahmen zumindest beeinflussen lasse. Dazu zähle unter anderem: „Psychohygiene und Achtsamkeit der Lehrkräfte untereinander: ein Bewusstsein für den anderen
entwickeln, sich Zeit zu nehmen für die Wahrnehmung der Bedürfnisse und Handlungen von Kolleginnen und Kollegen“ sowie „ein Konsens über die Grenzen pädagogischen Handelns und eine möglichst weitgehende Übereinkunft hinsichtlich des zugrundeliegenden Menschenbildes der in der Schule arbeitenden Personen“. News4teachers

Hier lässt sich die Broschüre herunterladen.

Vom geworfenen Stuhl bis hin zur Hetzkampagne im Internet – Lehrkräfte sind häufig Gewalt ausgesetzt



Title: Wie Schulen auf Gewalt gegen Lehrkräfte reagieren sollen: Der Schulleitung kommt eine Schlüsselrolle zu
URL: https://www.news4teachers.de/2023/06/wie-schulen-auf-gewalt-gegen-lehrkraefte-reagieren-sollen-der-schulleitung-kommt-eine-schluesselrolle-zu/
Source: News4teachers
Source URL: https://www.news4teachers.de
Date: June 2, 2023 at 04:06PM
Feedly Board(s): Schule