„Wir sind mitten im Prozess“

Wie wird der Religionsunterricht der Zukunft aussehen? Mit dieser Frage beschäftigen sich viele Bildungsverantwortliche in Deutschland – und finden unterschiedliche Antworten, die zu der jeweiligen Situation vor Ort passen. In Niedersachen wird derzeit ein von der evangelischen und der katholischen Kirche gemeinsam verantwortetes Modell geplant: Der Christliche Religionsunterricht. Wir haben mit Jörg-Dieter Wächter, dem Leiter der Hauptabteilung Bildung des Generalvikariats Hildesheim, über das bundesweit einzigartige Fach gesprochen.

 

Frage: Herr Dr. Wächter, Sie planen derzeit mit Ihren Kolleginnen und Kollegen der evangelischen Kirchen und der katholischen Bistümer in Niedersachsen einen gemeinsamen christlichen Religionsunterricht, der das konfessionelle Modell ersetzen soll. Wie wird der Religionsunterricht in Niedersachsen demnach zukünftig aussehen?

Jörg-Dieter Wächter: Der Religionsunterricht wird vor allen Dingen gemeinsam verantwortet von der evangelischen und der katholischen Kirche. Das heißt: Wir werden gemeinsam Kerncurricula verabreden und vereinbaren. Wir werden gemeinsam die Studiengänge akkreditieren. Wir werden gemeinsam Ausbildungsordnungen in Studienseminaren verändern. Und wir werden uns um die Lehrwerke und ihre Genehmigung kümmern. Das ist die Aufgabe der Kirchen als Institutionen.

Frage: An vielen Schulen in Niedersachsen wird der Religionsunterricht bereits konfessionell-kooperativ unterrichtet. Inwieweit geht das neue Modell darüber hinaus?

Wächter: Der konfessionell-kooperative Religionsunterricht in Niedersachsen ist de jure konfessioneller Religionsunterricht. Das heißt, er wird entweder von der evangelischen oder der katholischen Kirche verantwortet. Aber er ist und bleibt eben erstmal ein konfessioneller Religionsunterricht. Das bedeutet, es gibt Kriterien, mit denen nicht konfessionszugehörige Kinder oder Jugendliche für diesen Religionsunterricht zugelassen werden können. Und er ist in gewissem Sinne, wenn er katholisch gesprochen nicht der Trias (katholische Lehrkraft, katholische Schüler:innen, katholischer Inhalt) entspricht eben eine Ausnahmesituation. Da die konfessionelle Kooperation in Niedersachsen quantitativ das Hauptmodell darstellt, haben wir irgendwann gesagt: Es wäre doch klug, wenn man das nicht nur als Ausnahme zulässt, sondern es als eigenes Konzept und Modell gestaltet. Und das ist genau der Ansatz für den Christlichen Religionsunterricht.

Frage: Wenn man sich die Bildungslandschaft in Deutschland anschaut, gibt es viele verschiedene Formen des Religionsunterrichts – von KoKoRu bis zum Religionsunterricht für alle in Hamburg. Was ist der Mehrwert des geplanten Christlichen Religionsunterrichts?

Wächter: Wir glauben, dass dieser Religionsunterricht für uns hier in Niedersachsen gut passt. Denn wir haben eine sehr heterogene konfessionelle Struktur, die selten mit katholischen Mehrheiten, häufiger mit evangelischen Mehrheiten und auch mit sehr bunt gemischten Situationen, zum Beispiel in Großstädten, zurechtkommen muss. Ein zweites Argument, was für uns sehr wichtig war: Wir wollen den Religionsunterricht auch weiterhin in Übereinstimmung mit Artikel 7 Absatz 3 im Grundgesetz gestalten und organisieren. Und da waren wir bei unseren Überlegungen nicht so sicher, ob die anderen Modelle, die es gibt, dem entsprechen.

Frage: Werfen wir mal einen Blick in die Praxis: Wie muss ich mir den Christlichen Religionsunterricht über zwei Jahre an einer Schule vorstellen: Unterrichtet durchgehend eine Lehrkraft oder gibt es ein Wechselmodell mit interkonfessionellen Teams, die die Klasse im Wechsel unterrichten?

Wächter: Es wäre wirklich wünschenswert, wenn man unterschiedliche konfessionelle Stimmen zu Gehör bringen kann. Und da, wo es möglich ist, wird man das vernünftigerweise auch tun. Zugleich haben wir in Niedersachsen Regionen, da sucht man katholische Lehrkräfte vergebens. Da wird es schwierig mit dem Wechsel der Lehrkräfte oder der Kooperation. Wir wollen den katholischen Kindern religiöse Bildung aber nicht vorenthalten und da ist der Christliche Religionsunterricht ein geeignetes Modell. Umgekehrt bietet er auch für katholische Lehrkräfte eine Chance. Der Wechsel zwischen evangelischer und katholischer Lehrkraft ist eine Option.

Ich glaube, dass der konkrete Phänotypus des Religionsunterrichts sich wahrscheinlich gar nicht so gravierend verändert. Denn wir haben heute schon im konfessionell-kooperativen Religionsunterricht gemischte Lerngruppen. Und bei uns wird seit vielen Jahren Religionsunterricht in ökumenischem Geist erteilt. Das bedeutet, wir haben bereits eine konfessions- oder differenzsensible Art des Unterrichtens in den Schulen.

Wenn es um Inhalte geht, dann stellen wir über die Kerncurricula und die Didaktik sicher, dass die evangelische Religionslehrkraft auch katholische Inhalte unterrichtet und umgekehrt. Davon kann man sich dann nicht dispensieren. Und damit werden beide Konfessionen angemessen zur Sprache gebracht. Das ist bisher nicht zwingend so, sondern eher die Frage des schuleigenen Curriculums sowie einer persönlichen Vorliebe und Bereitschaft der jeweiligen Lehrkraft.

 

Zur Person:

Jörg-Dieter Wächter leitet die Hauptabteilung Bildung des Generalvikariats Hildesheim. Außerdem war der promovierte und habilitierte Erziehungswissenschaftler bis 2021 Vorsitzender der KoLeiScha, der Konferenz der Leiterinnen und Leiter der Schul- und Bildungsabteilungen deutscher Bistümer.

 

 

Frage: Gesamtgesellschaftlich gesehen geht die Zahl der christlich bzw. religiös sozialisierten Schülerinnen und Schüler zurück. Zusätzlich herrscht ein allgemeiner Lehrermangel. Ist das neue Modell auch eine Reaktion auf diese Tendenzen?

Wächter: Nein. Das Modell des Christlichen Religionsunterrichts ist keine Reaktion auf den Lehrermangel, aber es greift natürlich das schwindende Bewusstsein für Konfessionalität und konfessionelle Grenzen auf. Wenn wir heute Eltern – und zum Teil auch Lehrkräfte und Entscheider in den Schulen – fragen, wie wichtig ihnen die konfessionelle Differenz ist, dann stellen wir über die letzten 20 bis 30 Jahre deutliche Rückgänge fest, was die Fokussierung oder das Bewusstsein angeht. Insbesondere, wenn man Eltern und Schülerinnen und Schülern, die gar nicht mehr konfessions-spezifisch sozialisiert sind, erklären muss, weshalb sie nun in den einen oder anderen Unterricht gehen sollen, dann ist das Verständnis über weite Strecken gar nicht vorhanden.

Zudem gibt es auch ein inhaltliches Argument, das für eine gute Kooperation und eine gemeinsame Verantwortung spricht. Religionsunterricht an unseren Schulen ist nämlich in der Regel inhaltlich gar nicht so ausgestaltet, dass er zu den wirklich schwierigen theologischen Differenzfragen vordringt, sodass konfessionelle Differenzen im Religionsunterricht eigentlich nicht die zentrale Rolle spielen.

Frage: Wie kann eine ökumenische Bildung der beteiligten Religionslehrer sichergestellt werden? Wird es verbindliche Fortbildungen geben? Arbeiten Sie mit den Fortbildungsinstituten zusammen?

Wächter: Ja, natürlich. Es wird eine lange Zeit brauchen, bis alle Lehrkräfte nach neuen Standards ausgebildet worden sind. Deshalb müssen wir die Lehrkräfte, die bereits in der Praxis sind und noch 20 Jahre unterrichten, unterstützen und das machen wir auch. Wir haben sowieso schon intensive Kooperationen über die Bistümer und die Grenzen der Landeskirchen hinweg. Das heißt, wir arbeiten mit den evangelischen Fortbildungsinstituten intensiv zusammen – also in Loccum, in Aurich, in Braunschweig. Das sind Formen der Zusammenarbeit, die sich schon über längere Zeit etabliert haben und die momentan nochmal intensiviert werden.

Lehrkräfte sollen auch zukünftig entweder katholische Theologie oder evangelische Theologie studieren, entweder katholisch oder evangelisch ausgebildet werden und ihren Abschluss machen. Sie sollen, wenn sie einen Bundeslandwechsel vornehmen, natürlich auch dort Religionsunterricht erteilen können. Das können sie aber nur dann, wenn sie konfessionell ausgebildet sind. Diese berufliche Freizügigkeit der Lehrkräfte wollen wir sichern.

Frage: Der ehemalige niedersächsische Kultusminister Grant Hendrik Tonne sagte bei einem Kongress im Oktober über das neue Modell: „Ich finde diesen Weg ausgesprochen mutig und ausgesprochen richtig.“ Das hört sich sehr positiv an. Welche rechtlichen und fachlichen Fragen gilt es nun noch mit dem Land zu klären? Wie ist der aktuelle Stand?

Wächter: Die rechtlichen und fachlichen Fragen zu klären ist eine fordernde Aufgabe. Wir entwickeln momentan ein komplett neues Fach. Dadurch müssen wir uns zwischen dem einfachsten Erlass und dem niedersächsischen Schulgesetz alle Regelungen anschauen, die auch nur entfernt etwas mit dem Religionsunterricht zu tun haben. Diese müssen wir dann gegebenenfalls verändern. Deshalb gehen wir auch nicht davon aus, dass der Christliche Religionsunterricht als neues Fach vor dem 1. August 2025 eingerichtet sein wird. Diese Zeit brauchen wir noch, um mit dem Land gemeinsam alle Regelwerke zu überprüfen und entsprechend umzustellen und zu bearbeiten. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, aber die Juristen und die schulfachlichen Kolleginnen und Kollegen des Kultusministeriums haben bereits Fragen formuliert und uns vorgelegt, die wir dann zum Teil schon gemeinsam beantwortet haben. Also: Wir sind mitten im Prozess.

Frage: Gibt es bereits einen „Fahrplan“, wie die Einführung des Christlichen Religionsunterrichts im Schuljahr 2025/2026 ablaufen wird?

Wächter: Das können wir als Kirche nicht selbst entscheiden, sondern das muss das Land tun. Und ob das Land es dann besser finden wird, einen großen Schalter umzulegen oder das neue Modell in den weiterführenden Schulen und in den Grundschulen sukzessive einzuführen, steht noch nicht fest. Es gibt verschiedene Denkmöglichkeiten, aber es wurde noch keine finale Entscheidung getroffen.

Frage: Mit einem neuen Fach gehen ja auch neue Lehrpläne einher. Werden sie komplett neu geschrieben oder handelt es sich eher um eine Aktualisierung des Vorhandenen?

Wächter: Die Lehrpläne in Niedersachsen sind bei den meisten Schulstufen in fast allen Bereichen wortidentisch. Das könnte darauf hindeuten, dass wir hier eine sehr einfache Aufgabe haben. Das scheint mir aber anspruchsvoller zu sein. Die Fachleute sagen, eigentlich müssten wir etwas tiefer in die didaktische Reflexion einsteigen und schauen, ob das alte Kompetenzmodell, das wir momentan fahren, noch passgenau ist. Deshalb wird die Überarbeitung der Kerncurricula auch nicht nebenbei laufen können, sondern das ist schon eine intensivere Aufgabe.

Wir haben jetzt Vorkommissionen gebildet, in denen wir für uns als Kirche definieren, wie wir uns die Kerncurricula vorstellen, damit sie hinterher genehmigungsfähig für den Christlichen Religionsunterricht wären. Da gehen wir gemäß unserer „Roadmap“ kirchenintern bereits die nächsten Schritte, um dann gut vorbereitet zu sein, wenn wir mit dem Land konkrete Vereinbarungen treffen.

Frage: Was bleibt weiterhin katholisch am Christlichen Religionsunterricht?

Wächter: Katholisch bleiben natürlich die Lehrkräfte, die katholisch sind. Als katholischer Christ werden sie ja die Unterrichtsinhalte – und zwar auch jene, die gemeinsam evangelisch und katholisch vertreten werden – mit einer gewissen Färbung einbringen. Vermittelt über die konfessionelle Authentizität der unterrichtenden Lehrkraft bleibt der katholische Inhalt und die Prägung dann bestehen und wird aufrechterhalten. Genau wie vice versa eine evangelische Prägung durch die evangelischen Kolleginnen und Kollegen aufrechterhalten wird.

Frage: Zum Abschluss würde ich gerne noch wissen: Was ist Ihre Hoffnung für den neuen Christlichen Religionsunterricht?

Wächter: Ich hoffe, dass wir damit ein Modell für Niedersachsen entwickeln, was uns die nächsten – ich bin mal mutig – 20 Jahre in der Schulwirklichkeit trägt und es auch die nächsten Jahrzehnte ermöglicht, religiöse Bildung für Schülerinnen und Schüler sicherzustellen. Denn das ist eigentlich die Kernidee, die wir evangelisch-katholisch haben. Es geht uns nicht um eine Konfessionalisierung des Religionsunterrichtes. Es geht uns nicht um eine Preisgabe von konfessionellen Inhalten. Es geht uns nicht um Einfluss der Kirchen. Worum es uns geht, ist für die nachwachsenden Generationen religiöse Bildung sicherzustellen – weil wir der festen Überzeugung sind, dass das zur allgemeinen Bildung in diesem Land gehört.

Das Interview führte Maike Müller

 

Christlicher Religionsunterricht in Niedersachsen:

Die evangelische und die katholische Kirche in Niedersachsen planen ein neues Modell des Religionsunterrichts, das von beiden Partnern gemeinsam verantwortet wird. Der neue „Christliche Religionsunterricht“ ist eine Weiterentwicklung des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts (KoKoRu), der bereits an vielen Schulen in Niedersachsen erteilt wird. Als ersten Schritt haben die Schulreferent*innen der evangelischen Landeskirchen und katholischen Bistümer in Niedersachsen im Mai 2021 ein ökumenisches Positionspapier zu einem bekenntnisorientierten gemeinsam verantworteten christlichen Religionsunterricht (CRU) vorgelegt, der als Pflichtfach für alle in der katholischen Kirche oder in einer der evangelischen Kirchen getauften Schüler*innen konzipiert werden soll. Bei einem Kongress im Oktober 2022 hatte das das niedersächsische Kultusministerium signalisiert, grundsätzlich offen für den Vorschlag zu sein. Im Januar 2023 kündigten die beiden Kirchen Verhandlungen mit dem Land über das neue Fach an.

Das neue Fach "Christlicher Religionsunterricht" soll erstmals zum Schuljahr 2025/2026 angeboten werden. Es soll zugleich offen für alle interessierten Kinder und Jugendlichen sein, die nicht einer christlichen Konfession angehören. Von katholischer Seite sind die Bistümer Hildesheim und Osnabrück sowie das Bischöflich Münstersche Offizialat Vechta beteiligt. Von evangelischer Seite sind es die Evangelisch-Lutherische Landeskirche in Braunschweig, die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers, die Evangelisch-Lutherische Kirche in Oldenburg, die Evangelisch-Lutherische Kirche Schaumburg Lippe sowie die Evangelisch-Reformierte Kirche.

Weitere Informationen gibt es auf der Website religionsunterricht-in-niedersachsen.de

(mam)

 

 

 



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Date: April 26, 2023 at 07:59PM
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