„Wir spüren wenig Unterstützung“

Bild: Erlöserkirche in Jerusalem (Jorge Láscar (Flickr), CC BY 2.0 DEED), Sally Azar (dory.eu)

Im Heiligen Land herrscht wieder Krieg. Die palästinensischen Christen kämpfen in Mitten der Gewalt um ihr Überleben. Sally Azar ist lutherische Pfarrerin in Jerusalem und der West-Bank.

Die Terrorangriffe der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung und der Gaza-Krieg sind Thema der aktuellen Ausgabe unseres wöchentlichen Newsletters #LaTdH. Darin finden Sie u.a. Reaktionen von internationalen Beobachter:innen sowie Stimmen von Religionsvertreter:innen aus Juden- und Christentum. (Erste Reaktionen von deutschen KirchenvertreterInnen haben wir in den #LaTdH vom vergangenen Sonntag gesammelt und diskutiert.)

Das Interview mit Pfarrerin Sally Azar hat Eule-Redakteur Philipp Greifenstein am Donnerstag, den 12. Oktober 2023, per Zoom geführt.


Eule: Frau Azar, wie sieht die gegenwärtige Lage in den Gemeinden aus, in denen Sie Pfarrerin sind?

Azar: Alle machen sich große Sorgen, es ist keine stabile Situation. Wenn wir über unsere lutherischen Gemeinden sprechen – hier in Jerusalem und vier weitere in der West-Bank und eine in Jordanien – betrifft uns das, was in Gaza geschieht natürlich alle. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Jordanien und im Heiligen Land selbst hat keine Gemeinden im Gaza-Streifen, aber es gibt Kirchen und Christen dort, mit denen wir in Verbindung stehen, auch mit Mitgliedern meiner Gemeinde in Beit Sahour. Die Sorgen sind groß, weil der Kontakt mit einigen Verwandten und Freunden in Gaza abgebrochen ist. Es gibt auch christliche Familien, die auf der Flucht sind, zu denen der Kontakt abgebrochen ist.

Jerusalem fühlt sich an wie eine Geisterstadt: Alle haben Angst rauszugehen. Wir haben den Gottesdienst für die arabische Gemeinde für Sonntag abgesagt, weil wir uns nicht sicher sind, wie sicher unsere Gemeindemitglieder auf den Straßen sind. Schon zum Gottesdienst am vergangenen Sonntag hat sich die Gemeinde nicht getraut zu kommen. Der größere Teil der englischsprachigen Gemeinde an der Erlöserkirche ist ja international. Von diesen Gemeindemitglieder wollen viele Menschen in ihre Heimatländer zurück.

Eule: Worin sehen Sie den Auslöser der Eskalation?

Azar: Der Auslöser ist schon seit 75 Jahren da, solange gibt es die Besatzung schon. Auch die Blockade von Gaza ist nicht neu, sondern dauert bereits seit 15 Jahren an. Das ist natürlich keine Rechtfertigung für die Gewalt der Hamas. Wir sind gegen jede Art von Gewalt. Dafür stehen wir als Kirche natürlich. Wir können aber nicht leugnen, was die Hintergründe sind. Das Ausmaß der Gewalt ist erschreckend, aber dass es immer wieder zu Angriffen kommt, ist nicht überraschend. Das ist keine Entschuldigung für das, was jetzt passiert. Es ist ja das Volk das unter beiden Seiten leidet, der Hamas und Israel.

Eule: In der Stellungnahme Ihrer Kirche wird beschrieben, dass Gewalt ein Symptom eines Volkes ist, dass durch jahrelange Gewalt und Unterdrückung verletzt ist. In Deutschland wird kritisiert, dass in dem Brief der Terror der Hamas nicht ausdrücklich verurteilt wird.

Azar: Doch! Man sollte aus dem Brief nicht einzelne Sätze herausnehmen und skandalisieren. Wir stehen gegen Gewalt! Wir unterstützen die Hamas nicht. Das steht alles auch im Brief. Es ist aber richtig, dass unter der andauernden Besatzung, der Belagerung von Gaza und jetzt dem Krieg gegen die Hamas das palästinensische Volk leiden wird. Wenn wir über unser Volk sprechen, dann sprechen wir nicht über die Hamas. Die Hamas repräsentiert uns nicht.

Es ist richtig, dass es uns in dem Brief auch um die Zusammenhänge geht, in denen Gewalt immer wieder möglich wird. Der Angriff am 7. Oktober war kein singuläres Ereignis. Viele Palästinenser sind in den vergangenen Jahren gestorben, ohne dass ihr Leiden so viel Aufmerksamkeit auch in Deutschland erhalten hätte.

Eule: In den vergangenen Monaten wurde immer wieder über die schwierige Situation der Christen im Heiligen Land berichtet. Besteht die Gefahr, dass es bald keine palästinensischen Kirchen mehr vor Ort geben wird?

Azar: Ja, auf jeden Fall! Wir spüren wenig Unterstützung, wenn jetzt die Solidarität mit uns in Frage gestellt wird, ohne dass man mit uns gesprochen oder bei uns nachgefragt hätte. Wir sind Teil einer Kirche, die auch hier im Land ist und auch betroffen ist. Wir verstehen auch, dass die Kirchen in Deutschland mit Israel stehen. Aber ihr vergesst, dass es unter den Palästinensern auch Christen gibt. Es gibt hier eine Kirche, die Unterstützung braucht! Wer einfach gegen alle Palästinenser spricht, der spricht auch gegen unsere Kirche, uns als palästinensische Christen.

Die Situation für die palästinensischen Christen ist derzeit bedrohlich. Wenn es so weitergeht, werden noch mehr Menschen als jetzt schon überlegen, ob sie nicht auswandern sollten. Aber da ist natürlich die große Frage: Wo sollen wir denn hin? Und wer bleibt hier? Bald werden keine Christen mehr hier sein, wenn es so bleibt. Es geht darum zu unterscheiden, dass wenn man mit Palästina steht, es nicht sofort zu Antisemitismus gemacht wird. Es geht um Menschenleben.

Eule: Auf der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes im September 2023 in Krakow wurde ein Statement verabschiedet, das die Besatzung und die Siedlungsbewegung kritisiert. Haben Sie den Eindruck, dass das geduldiges Papier ist und ignoriert wird, was beschlossen wurde?

Azar: Ich war ja selbst in Krakow vor Ort bei der LWB-Vollversammlung. Mich hat gewundert, dass niemand auf unseren Antrag reagiert hat. Keiner hat etwas dagegen gesagt, er wurde mit 90 % beschlossen. Ich finde es sehr gut, dass wir uns darin einig sind, dass die Besatzung beendet werden muss. Natürlich wurde der Beschluss erst vor wenigen Wochen gefasst und konnte noch keine Wirkung entfalten. Ich weiß auch nicht, wie er in allen lutherischen Kirchen aufgenommen werden wird. Wir wissen natürlich, dass der Weltbund und viele lutherische Kirchen hier schon stark engagiert sind, das Auguste-Viktoria-Hospital zum Beispiel ist ganz wichtig für unsere Gesundheitsversorgung.

Eule: Es gibt auch ein evangelisches Engagement aus Deutschland, das jetzt aber zum Teil in Frage gestellt wird. In den letzten Tagen wird gesagt: Vorsicht mit der Unterstützung von palästinensischen Organisationen!

Azar: Ja, aber ich verstehe nicht: Warum? Damit würde man viel zerstören, was hier von Palästinensern aufgebaut wurde. Die Palästinenser sind nicht nur Hamas! Ich verstehe natürlich die Wut, aber man sollte nicht generalisieren und das ganze Volk darunter leiden lassen, was die Hamas gemacht hat. Wir müssen von einer humanitären Seite aus auf die Menschen schauen, die hier leben und auch leiden.

Es ist auch zu einfach, wenn man behauptet, die Hamas benutzt die Leute in Gaza. Das geht nicht! Es gibt keinen Grund, der erlaubt, Menschen zu töten. Das sind 2 Millionen Menschen, die haben jetzt kein Wasser, keine Elektrizität und kein Essen. Natürlich wurde auch angekündigt, Hilfe zu schicken. Aber wird Israel das zulassen? Wir versuchen gerade als Kirche, Essen und Hilfsgüter dahin zu schicken. Wir haben es 2014 und 2018 erlebt, dass die Lieferungen lange aufgehalten wurden und erst spät zu den Menschen gelangten.

Eule: Was wünschen Sie sich von den Christen in Deutschland jetzt in dieser Situation?

Azar: Sie sollten daran denken, dass hier auch christliche Palästinenser leben, dass wir Kirchen hier sind und auch gegen die Besatzung kämpfen. Es geht dabei nicht nur um Geld, sondern um moralische Unterstützung, damit wir uns hier nicht so allein fühlen. Die internationalen Gemeindemitglieder reisen jetzt vielfach aus, auch viele Deutsche, die hier leben, aber wir palästinensischen Christen sind diejenigen, die hier sind und bleiben.


Mehr:

  • Im Februar 2023 war Sally Azar bereits im „Himmelklar“-Podcast von katholisch.de und Domradio zu Gast. Bei Host Renardo Schlegelmilch erzählte sie von ihrem Weg ins Pfarramt, wie sie als Frau im Nahen Osten um gleiche Rechte kämpfen muss und warum Deutschland für sie ein „Freiheitsschock“ war.
  • Ende September 2023 bereiste eine Delegation des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) das Heilige Land. Schwerpunkt der Reise war das evangelische Leben vor Ort. Insbesondere wurde auf die schwierige Situation der Christen hingewiesen: „EKD-Reise nach Jerusalem“

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Title: „Wir spüren wenig Unterstützung“
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Source: REL ::: Die Eule
Source URL: https://eulemagazin.de
Date: October 15, 2023 at 02:11PM
Feedly Board(s): Religion