„… zu zeigen, was bald geschehen soll.“ Wer sich der Johannesoffenbarung beschäftigen will, muss zuvor viel über die anderen Bücher der Bibel gelernt haben.

Horst Heller
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Für eine Reise hatte ich mir das letzte Buch der Bibel, die Johannesoffenbarung, als Hörbuch besorgt. Der Anlass war der Auftrag, zusammen mit einem Kollegen Unterrichtsmaterial für Schülerinnen und Schüler zu erstellen. Das Ergebnis der Zusammenarbeit ist am Ende dieses Beitrags verlinkt.

Auf den ersten Blick schien mir Johannesoffenbarung mit ihren apokalyptischen Bildern gut zum Lebensgefühl junger Menschen zu passen, die die COVID-Pandemie erlebt hatten. Hatte sie nicht eine weltweite Endzeitstimmung erzeugt? Fühlt sich unsere Zeit nicht an, als gingen stabile Ordnungen zu Bruch? Werden wir nicht täglich mit Bildern und Karikaturen versorgt, die die Folgen der weltweiten Klimaerwärmung drastisch veranschaulichen? Weltuntergangsstimmung!

Doch dann kamen mir Zweifel. Die Pandemie ist kein Gesprächsthema unter Schülerinnen und Schülern mehr. Erstwählerinnen und Erstwähler haben mehrheitlich eine Partei gewählt, die die Klimakrise für überbewertet hält. Die Shell-Studie 2024 zeigt ein differenziertes Bild: Junge Menschen sind besorgt, aber pragmatisch und optimistisch. Als Letzte Generation vor den Kipppunkten fühlen sie sich nicht, auch wenn seit Jahren der Öko-Alarm schrill ertönt.


In solche Gedanken vertieft höre ich die Johannesoffenbarung. Sie ist wahrscheinlich am Ende des ersten Jahrhunderts geschrieben worden und versteht sich als Rundbrief an christliche Gemeinden in der Provinz Asia an der heute türkischen Ägäisküste. Der Autor nennt sich Johannes und nimmt seine Leserinnen und Leser mit auf eine visionäre Reise an das nahe Ende der Zeit. Sein Anliegen: Die Christen seiner Zeit sollen erfahren, was bald geschehen wird und sich darauf vorbereiten.

Während die 22 Kapitel der Johannesoffenbarung verlesen werden, komme ich gehörig ins Nachdenken. Vieles an diesem Buch wirkt äußerst befremdlich. Es fühlt sich nicht so an, als sei dieses Buch der Bibel ein Brief an mich.

Da ist zunächst Christus. Johannes beschreibt ihn. Er ist gekleidet mit einem langen Gewand und einem goldenen Gürtel. Sein Haar ist weiß, aus seinen Augen blitzen Flammen. Seine Rede ist scharf und streng. Den Prediger, der am See Genezareth die Menschen lehrte, stelle ich mir ganz anders vor. Zwar spricht auch Johannes von der Liebe Gottes, aber diese gilt offenbar nur wenigen. Er nötigt die Gemeinden, die Grenzen zur feindlichen Welt deutlich zu markieren. Von Irrlehrern, die er mit Namen nennt, von Menschen mit fragwürdigem Lebenswandel und vor allem von Angehörigen anderer Religion sollen sie sich trennen. Ist das Apokalyptik?

Ja, das ist Apokalyptik. Das ganze Neue Testament ist vom Gefühl bestimmt, in der letzten Zeit zu leben. Auch Jesus und Paulus rechneten mit dem baldigen Anbruch des Reiches Gottes. Doch Jesus heilte die Kranken und mahnte alle zur Umkehr. Paulus reiste unermüdlich von Ort zu Ort, damit möglichst alle Menschen von der Guten Nachricht hörten. Es ging ihnen um Heilung und Heil vieler, möglichst aller Menschen. Johannes hingegen ist sich sicher: Nur wenige werden gerettet werden.

Für mich das Befremdlichste an diesem Buch ist aber der Anspruch, mit dem Johannes auftritt. Er beginnt sein Buch mit den Worten: „Dies ist die Offenbarung Gottes“ (Off 1,1) und droht allen mit Verdammnis, die ein Kapitel dieses seines Buches unterschlagen oder etwas hinzufügen. Die christliche Theologie hat aber die Würde, Offenbarung Gottes zu sein, allein Jesus Christus zugesprochen, nicht einem Bibelbuch. Wer die Bücher des Neuen Testaments zusammengestellt hat, muss an diesem Anspruch ebenfalls Zweifel gehabt haben. Denn er stellte der Johannesoffenbarung die Evangelien voran, die doch „nur“ (wie Schriftsteller) von Jesus erzählen. Die Johannesoffenbarung fand ihren Platz hinter sämtlichen Briefen des Neuen Testaments – als letztes Buch der Bibel.

Nach 70 Minuten ist das letzte der fast 12.000 Wörter der Johannesoffenbarung verklungen. Eine Unterrichtsreihe über das letzte Buch der Bibel will gut bedacht sein, denke ich. Wer sich ihm beschäftigen will, muss zuvor viel über die anderen Bücher der Bibel gelernt haben. Und doch habe ich im Nachdenken über die Johannesoffenbarung drei wertvolle Erkenntnisse gewonnen.

Biblizistische Auslegungen dieses Buches lassen sich mit der Johannesoffenbarung selbst problematisieren. Es gibt Menschen, die in den Prophezeiungen des Johannes einen Fahrplan für die Ereignisse am Ende der Welt zu erkennen glauben. Und tatsächlich: Die existenzbedrohenden Christenverfolgungen sah Johannes voraus. Doch die systematische staatliche Repression fand erst 200 Jahre nach Johannes statt. Nichts von dem, was er kommen sah, geschah „bald“. Vieles geschah gar nicht. Biblizistische geprägte Schülerinnen und Schüler könnten darüber nachdenken, dass Propheten nicht frei von Irrtümern sein müssen.

Der Erwartung eines Weltgerichts kann ich etwas abgewinnen. Nein, ich kann nicht in die Zukunft schauen, wie Johannes es behauptet. Aber mit der Vorstellung des Jüngsten Gerichts verbinde ich eine Hoffnung. Dass nämlich alle, denen in ihrem Leben Unrecht widerfahren ist, bei Gott eine Wiedergutmachung erfahren werden. Das würde Wunden heilen. Mit einer ewigen Sündenstrafe für die Ungläubigen, wie sie Johannes erwartet, hat das nichts zu tun.

Wird die Kirche die Herausforderungen der Gegenwart meistern?
Für mich hält die Johannesoffenbarung schließlich auch eine Botschaft für die Kirche der Gegenwart bereit: Hat sie die Kraft, auf Säkularität und religiöse Vielfalt mit einem Angebot zu reagieren, das die Menschen berührt? Johannes empfiehlt den verfolgten Christen seiner Zeit: „Haltet durch und trennt euch im Zweifelsfall von Menschen, die anders denken als ihr.“ Uns würde er sicher eine andere Antwort geben.

Material für den Unterricht
Andreas Reinert & Horst Heller, Das letzte Buch der Bibel (Friedrich-Verlag, kostenpflichtig)
https://www.friedrich-verlag.de/friedrich-plus/sekundarstufe/religion/mensch/das-letzte-buch-der-bibel-18464

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Title: „… zu zeigen, was bald geschehen soll.“ Wer sich der Johannesoffenbarung beschäftigen will, muss zuvor viel über die anderen Bücher der Bibel gelernt haben.
URL: https://horstheller.wordpress.com/2024/11/02/die-johannesoffenbarung/
Source: Horst Heller
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Date: November 2, 2024 at 04:27PM
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