Aufstand im Warschauer Ghetto: „Es ging darum, nicht wie ein Schaf zu sein“

Aufstand im Warschauer Ghetto: „Es ging darum, nicht wie ein Schaf zu sein“

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Aufstand im Warschauer Ghetto

"Es ging darum, nicht wie ein Schaf zu sein"

Stand: 19.04.2023 05:50 Uhr

Vor 80 Jahren begann der Aufstand im Warschauer Ghetto. Zwei Überlebende erzählen im Interview über den Kampf gegen die NS-Schergen und ums Überleben. Der Aufstand, berichten sie, sei vor allem eine Frage der Würde gewesen.

ARD: Frau Budnicka, Sie sind die letzte Zeitzeugin, die den Aufstand im Warschauer Ghetto miterlebt und überlebt hat. Damals waren Sie zehn Jahre alt. Was ist Ihre stärkste Erinnerung? 

Krystyna Budnicka: Ich war zu Beginn des Aufstands bereits in einem Bunker, den mein Bruder selbst gebaut hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte sich unsere Familie, meine Eltern und meine älteren Brüder, dort schon einige Monate versteckt. Ich habe den Aufstand nicht gesehen, ich habe ihn gefühlt. Ich konnte die Flammen überall um mich herum spüren, die Hitze, die da war. Der Boden um den Bunker herum erwärmte sich, als es rundherum brannte, ich konnte es spüren. Es war wie in einem Brotbackofen. Am Ende sind wir durch die Kanalisation entkommen.  

Zur Person

Krystyna Budnicka war elf Jahre alt, als sie sich Anfang 1943 mit ihren Eltern, ihren Geschwistern und einer Schwägerin in einem selbstgebauten unterirdischen Bunker im Warschauer Ghetto versteckte. Dort überlebten sie den Aufstand im Ghetto. Als der Bunker Monate später entdeckt wurde, versuchten sie über einen Abwasserkanal auf die sogenannte "arische Seite" zu fliehen. Die meisten ihrer Angehörigen starben nach und nach vor Hunger und Erschöpfung oder wurden von den Deutschen ermordet. Nur ihr und ihrer Schwägerin gelang es, aus dem Ghetto zu fliehen und sich bei polnischen Familien zu verstecken. Im Oktober 1944 wurde sie von Nonnen in ein Waisenhaus aufgenommen. Nach dem Krieg machte sie Abitur, studierte Pädagogik an der Katholischen Universität in Lublin und arbeitete später als Sonderschullehrerin. 

ARD: Herr Kalwary, Sie konnten kurz vor Beginn der Deportationen ins Vernichtungslager Treblinka aus dem Ghetto fliehen. Was ist Ihre stärkste Erinnerung? 

Marian Kalwary: Ich war zehn Jahre alt, als ich 1940 ins Ghetto kam. Ich habe schlagartig aufgehört, ein Kind zu sein. All das, was man um sich herum gesehen hat, diese Bilder, immer wieder die gleichen Bilder. Das schrecklichste Bild im Ghetto waren die Kinder, die entlang der Mauern lagen. Eigentlich ihre Skelette, denn sie sahen nicht mehr wie Kinder aus.  

Überall verhungerten Menschen, geschwollen vor Hunger oder abgemagert, und Kinder, die nicht mehr aufstehen konnten. Sie lagen auf der Straße vor den Gebäuden. Meistens haben sie um Erbarmen gebeten. Dadurch lernte ich ein paar Worte Jiddisch, denn das konnte ich nicht. Und ich denke, dass ich später die Besatzung nur deshalb überlebt habe, weil ich aus einem völlig assimilierten Umfeld stammte. Aber im Ghetto habe ich meine ersten jiddischen Worte gelernt, vor allem solche, die eine Bitte oder eine Bitte um Mitleid ausdrückten. Das sind Bilder und Eindrücke, die ein Mensch nie vergisst.

Zur Person

Marian Kalwary war zehn Jahre alt, als er im Oktober 1940 ins Ghetto kam. Er konnte von dort fliehen, kurz bevor die Deutschen im Juli 1942 mit den Deportationen ins Vernichtungslager Treblinka begannen. Er überlebte zusammen mit seiner Mutter in einer von den deutschen Besatzern errichteten Eisenbahnersiedlung mit falschen polnischen Papieren – bis zur Befreiung. Nach dem Krieg arbeitete er als Kameramann. Heute ist er ehrenamtlich Vorsitzender des Verbands der jüdischen Kombattanten und Geschädigten des Zweiten Weltkriegs. Er engagiert sich vor allem für die Anerkennung von Rentenansprüchen überlebender Juden und Roma. 

"Dass ich lebe, verdanke ich meiner Mutter"

ARD: Können Sie erklären, wie Sie es geschafft haben, diese Hölle zu überleben? 

Kalwary: Dass ich lebe, dass meine Schwester überlebt hat, das verdanken wir meiner Mutter, deren Mut und Tapferkeit in der Tat unglaublich waren. Meine Mutter hat das Ghetto vielleicht zwei oder drei Tage, bevor es abgeriegelt wurde, verlassen. Meine Mutter ging auch schon vorher oft auf die sogenannte arische Seite. Sie hatte die finanziellen Möglichkeiten, denn das war ein ziemlich teures Unterfangen.

Ich bin genau einen Tag vor der Schließung des Ghettos rausgekommen. Auf dem gleichen Weg. Aber ich war damals noch keine zwölf Jahre alt, und ich hätte es alleine nicht geschafft. Es war perfekt organisiert. Ein Gerichtsangestellter hat mich einfach im Rahmen einer Verhandlung als Zeugen abgeholt. Er sagte nur, ich hätte eine Vorladung erhalten und solle sofort gehen. So bin ich rausgekommen. 

"Ich habe wohl überlebt, um davon zu erzählen"

ARD: Frau Budnicka, Sie haben insgesamt neun Monate unter der Erde in einem Bunker verbracht. Erst als dieser von den Deutschen entdeckt wurde, mussten Sie durch die Kanalisation fliehen. Sie haben als Einzige Ihrer Familie überlebt. Wie? 

Budnicka: Ich muss es gleich vorwegnehmen: Ich bin keine Heldin. Ich habe nicht wie meine Brüder ums Überleben gekämpft. Eigentlich hatte ich keine Chance, war die Schwächste in der Familie, am wehrlosesten.

Als der Bunker entdeckt wurde, mussten wir raus durch die Kanalisation. Es gab Polen außerhalb des Ghettos, die uns helfen wollten. Doch am vereinbarten Treffpunkt ließ sich der Gullideckel nicht öffnen. Wahrscheinlich hatten die Deutschen gemerkt, dass dort Bewegung war, dass in diesem Schacht jemand war. Sie hatten den Eingang zugeschweißt. Also hieß es: Geht zum nächsten Schacht.

Und dann war das Schlimmste, dass meine Eltern nicht mehr die Kraft hatten, aufzustehen. Ich hielt die Hand meiner Mutter krampfhaft fest. Mama sagte zu mir: Geh, du musst gehen. Also bin ich gegangen. Ich habe nicht gedacht, dass ich meine Eltern nicht wiedersehen würde. Erst viele Jahre später habe ich gemerkt, dass ich wohl überlebt habe, um davon zu erzählen. Ich denke oft: weil einfach ein Zeuge übrig bleiben musste. Also fiel es mir zu. Es ist auf mich gefallen. Die göttliche Vorsehung. 

Eines der bekanntesten Bilder aus dem Warschauer Ghetto zeigt eine Gruppe von Juden, die am 19. April 1943 von NS-Soldaten aus dem Ghetto geführt werden. Insbesondere der kleine Junge mit den erhobenen Händen steht für die Unschuld und das Ausgeliefertsein der Juden in dem Ghetto, aber auch für die Unmenschlichkeit der NS-Besatzer.
Bild: AP

"Bleiben Sie nicht gleichgültig"

ARD: Sie sagen, Sie hätten vermutlich auch überlebt, um davon zu erzählen. Glauben Sie, dass Ihre Stimme gehört wird? 

Budnicka: Wenn ich nicht daran glauben würde, dass es Sinn macht, würde ich zu Hause im Warmen sitzen, Tee oder Milch trinken und mir ein Fußbad gönnen oder so.

Aber ich glaube daran, und deshalb ist mir der Kontakt zu jungen Menschen immer noch sehr wichtig, weil ich glaube, dass es sich lohnt, denn junge Menschen haben noch diese Sensibilität. Und sie können noch etwas bewegen.

Irgendwann werden sie sich vielleicht daran erinnern, dass sie eine alte Dame gesehen haben, die solche Erfahrungen gemacht und an sie appelliert hat: Sei nicht gleichgültig. Das gilt nicht nur im Krieg. Auch gegenüber einem Schulkameraden. Sieh mal, er ist traurig, vielleicht bedrückt ihn etwas, vielleicht hat er Schmerzen, vielleicht ist zu Hause etwas nicht in Ordnung. Geh zu ihm.

Das ist sehr wichtig. Ich wiederhole es überall und finde es großartig: Bleiben Sie nicht gleichgültig. 

Dass sie, wie diese zwei Männer, von NS-Soldaten aus dem Ghetto in ein Vernichtungslager deportiert werden sollten, war vielen Juden bewusst. Sie hatten sich deshalb über Monate auf einen Aufstand vorbereitet – wohlwissend, dass sie den deutschen Soldaten hoffnungslos unterlegen waren.
Bild: picture-alliance/ dpa

"Die Menschen hatten nichts mehr zu verlieren"

ARD: Es war allen von Anfang an klar, dass der Aufstand im Warschauer Ghetto niemals erfolgreich sein würde. Welchen Sinn hatte der Aufstand, wenn Sie heute zurückschauen? 

Kalwary: Der Aufstand hatte vor allem auch eine symbolische Bedeutung. Man hat nicht einmal im Ansatz an den Sieg oder ans Überleben gedacht. Die Menschen dort hatten nichts mehr zu verlieren. Was sie damit gewinnen konnten, war ein ehrenvoller Tod. Und das ist ihnen gelungen. Sie haben das Ziel des Aufstandes erreicht. Deshalb sitzen wir heute hier und ehren den Jahrestag dieses Aufstands.  

Budnicka: Es war moralisch sinnvoll, denn militärisch war es sinnlos. Meine Brüder hatten nicht einmal eine Flasche Benzin, als sie sich den Panzern und Maschinengewehren entgegenstellten. Sie haben sich aufgelehnt, um etwas zu demonstrieren: ihren Widerstand.

Es ging darum, nicht wie ein Schaf zu sein, das war der Punkt. Es war eine Frage der Ehre. 

Die Fragen stellte Kristin Joachim, ARD-Studio Warschau

via tagesschau.de

April 19, 2023 at 09:26AM