„Bewährte Strukturen“: Philologen fordern, Bildungsreformen zurückzudrehen – und das Gymnasium wieder zu stärken

„Bewährte Strukturen“: Philologen fordern, Bildungsreformen zurückzudrehen – und das Gymnasium wieder zu stärken

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BERLIN. „Die Corona-Pandemie hat wie im Zeitraffer Erwartungen und Probleme im Bildungsbereich beschleunigt und vergrößert“ – meint der Deutsche Philologenverband (DPhV). Dessen Vertreterversammlung hat deshalb nun einen Leitantrag verabschiedet, der von den Kultusministerinnen und Kultusministern Konsequenzen einfordert. „Die Bildungspolitik muss mittlerweile veraltete Denkmuster überwinden und aktiv das Vertrauen in ihre Steuerungs- und Gestaltungsfähigkeit zurückgewinnen. Sie muss dazu zukunftsfähige und vertrauenswürdige Lösungen erarbeiten“, so heißt es in dem Papier. Was damit konkret gemeint ist, wird in einer Erklärung ausgeführt.

„Am ganzheitlichen gymnasialen Bildungsverständnis festhalten: Der Vorstand des Deutschen Philologenverbands – in der Mitte: die Bundesvorsitzende Prof. Susanne Lin-Klitzing. Foto: DPhV

„Corona hat gezeigt, wie wichtig es ist, auf die individuellen Lernvoraussetzungen, Neigungen und Interessen der Schülerinnen und Schüler eingehen zu können. Dazu bedarf es eines differenzierten Bildungsbegriffs, der Unterschiede in der Auswahl und Gewichtung der Bildungsziele je nach Schulart und Altersgruppe fördert“, so postuliert der Philologenverband in seinem Leitantrag – und fordert deshalb: „Gegliedertes Schulsystem stärken!“ Mehr denn je sei es nach der Krise die Aufgabe der Bildungspolitik, den verschiedenen Schularten die Möglichkeit zu eröffnen, nach den Erfordernissen ihres Bildungsauftrags, ihrer Schülerinnen und Schüler und ihrer Schulform unterschiedliche Bildungsbegriffe zu entwickeln und auszugestalten.

„Für das Gymnasium muss das heißen, am ganzheitlichen gymnasialen Bildungsverständnis festzuhalten und die Ziele der Wissenschaftspropädeutik, die stets eng an Erkenntnisse, Methoden und Fragestellungen der jeweiligen Bezugswissenschaft gebunden ist, der allgemeinen Studierfähigkeit und der vertieften Allgemeinbildung grundständig zu stärken.“

„Die Bildungspolitik muss das hohe Gewicht der Fachlichkeit am Gymnasium als wertvolle Ressource begreifen“

Die Bildungspolitik müsse lernen, mehr Vertrauen in bewährte Strukturen zu entwickeln. „Das Gymnasium in Deutschland verdient dieses Vertrauen, auch weil es mit seinen Absolventinnen und Absolventen einen entscheidenden Beitrag zur nachhaltigen Sicherung des wissenschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts in Deutschland leistet. Die Bildungspolitik muss daher das hohe Gewicht der Fachlichkeit am Gymnasium als wertvolle Ressource begreifen.“

Das gilt auch für die Digitalisierung des Unterrichts. Die Philologen fordern eine kritische Bestandsaufnahme der Lernwirksamkeit und der Praktikabilität „dieser Instrumente“ sowie der Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte. „Die negative Seite digital unterstützten Unterrichts, nämlich die Möglichkeit zum Missbrauch und zur Verletzung von Persönlichkeitsrechten, haben Lehrkräfte auch an Gymnasien während der Pandemie schmerzlich erfahren müssen. Der DPhV betrachtet die Unverletzlichkeit des Unterrichts als geschütztem Raum für die fachliche und persönliche Weiterentwicklung der Schülerinnen und Schüler als unverhandelbare Voraussetzung jeder politischen Steuerungsmaßnahme.“

Hintergrund: Im Distanzunterricht hatte es etliche Fälle gegeben, bei denen Hacker in die virtuellen Klassenräume eingedrungen waren, wie News4teachers berichtete.

Auch bei der Lehrerausbildung sieht der Verband Verbesserungsbedarf. „Die gravierenden Probleme der Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst und ihrer Ausbilderinnen und Ausbilder während Corona haben gezeigt, dass die vielerorts vorgenommene Vorverlagerung von Ausbildungsinhalten aus der zweiten in die erste Phase der Lehrerbildung und die damit begründete zeitliche Verkürzung ein Fehler war“, so erklärt der  Verband – und fordert grundsätzlich ein zweijähriges Referendariat für alle angehenden Lehrkräfte an Gymnasien (das es nur noch in den wenigsten Bundesländern gibt).

Der wichtigste Punkt aus Sicht der Philologen („das Herzstück“) sind allerdings „aussagekräftige Leistungsbewertungen und Schulabschlüsse, die verlässliche, leicht verständliche und nachvollziehbare Aussagen über das Wissen, das Können und die Kompetenzen der Schülerin bzw. des Schülers treffen“. Die Gymnasiallehrer fordern von der Bildungspolitik Anstrengungen, „um dem Abitur mehr Vergleichbarkeit auf insgesamt höherem Niveau zu verleihen. Es ist dafür zu sorgen, dass durch sachgerechte Kriterien zur Auswahl der zu belegenden Fächer und zur Einbringung der Kurshalbjahre in die Abiturqualifikation der Anspruch einer breiten Allgemeinbildung in der Qualifikationsphase der Oberstufe besser verwirklicht wird. Das vertiefte Arbeiten muss dadurch gefördert werden, dass mehr Wert auf den Aspekt der Wissenschaftspropädeutik in Curricula und Prüfungsanforderungen der Oberstufe gelegt wird.“

„Die Expertise der abgebenden Schule sollte beim Übertritt in die weiterführende Schule in seiner Bedeutung gestärkt werden“

Die Kompetenzorientierung, die in den vergangenen 20 Jahren Eingang in praktisch alle Lehrpläne gefunden hat, sei kritisch zu hinterfragen. „Der DPhV betont, dass Kompetenzen immer von konkretem Wissen und Können begleitet sein müssen. Die Bedeutung dieser Aspekte in curricularen Vorgaben für den Unterricht aller Fächer ebenso wie in allen Formen der Leistungsüberprüfung muss gestärkt werden. Ebenso muss dieser Aspekt in den Fokus des Bildungsmonitorings gerückt werden.“ Das hätte Konsequenzen zum Beispiel für die PISA-Studie: Statt wie bisher „Fertigkeiten zur Bewältigung von authentischen Problemen“ zu testen, müsste dort dann Schulwissen abgefragt werden.

Zurück wollen die Philologen auch zur größeren Verbindlichkeit der Empfehlungen am Ende der Grundschulzeit über die weiterführende Schule – die liegt mittlerweile in den meisten Bundesländern in Elternhand. Der Philologenverband tritt hingegen „für eine Stärkung der Rolle der Lehrkräfte bei der Schullaufbahnberatung und -entscheidung ein. Das Wissen und die Expertise der abgebenden Schule sollten schon beim Übertritt von der Grund- in die weiterführende Schule in seiner Bedeutung gestärkt werden. Der DPhV fordert schüler- und sachgerechte Übergangsverfahren in allen Bundesländern, die auf belastbaren Feststellungen über die Lernentwicklung der Schülerinnen und Schüler beruhen und gerade im Konfliktfall eine objektive Grundlage zur Verfügung stellen. In den späteren Phasen fordert der DPhV eine größtmögliche horizontale und vertikale Durchlässigkeit des Schulsystems, um besser auf die individuelle Entwicklung der Schülerinnen und Schüler eingehen zu können.“

Die Bildungspolitik, so attestieren die Gymnasiallehrer den Kultusministerinnen und Kultusministern, habe in der Pandemie einen großen Vertrauensverlust erfahren. Dies sei „nicht zuletzt eine Krise der Entscheidungsstrukturen. „Der DPhV fordert, die Amtszeit der KMK-Präsidentschaft auf drei Jahre zu verlängern, um das nachhaltige Verfolgen bildungspolitischer Ziele zu ermöglichen.“ Anders ausgedrückt: Wer immer an der Spitze der Kultusministerkonferenz steht, soll die Suppe auch auslöffeln, die er den Schulen einbrockt. News4teachers

Was macht die IT mit der gymnasialen Bildung? Philologen: Digitalisierung der Schulen darf kein Selbstzweck sein

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May 11, 2022 at 03:48PM