Darum wird der Religionsunterricht in Zukunft noch wichtiger
In Nordrhein-Westfalen gibt es den "KoKoRu", in Brandenburg "LER", im Hamburg "RUfa" – hinter all diesen Abkürzungen verbergen sich unterschiedliche Formen des Religionsunterrichts. Der Wandel, dem die beiden großen Kirchen unterworfen sind, spiegelt sich auch in der Schule wider. Immer häufiger gibt es eine Zusammenarbeit zwischen evangelischer und katholischer Kirche. In Niedersachsen etwa haben sich Landeskirche und Bistümer Anfang Januar zusammengetan, um mit der Landesregierung über ein Fach "christlicher Religionsunterricht" zu verhandeln, das aus Sicht der Kirchen künftig den konfessionellen Religionsunterricht ersetzen soll.
Die Landschaft des Religionsunterrichts in Deutschland ist vielfältig. "Bei dessen Weiterentwicklung gibt es eine gewisse Ungleichzeitigkeit zwischen den Bundesländern", sagt Religionspädagoge Ulrich Riegel von der Universität Siegen, der sich seit Jahren mit dem Religionsunterricht beschäftigt. Der Grund für die unterschiedlichen Formen: Bildung ist in der Politik Ländersache. Hinzu kommt, dass die Zusammensetzung der Bevölkerung in Hinblick auf die Religionen sehr unterschiedlich ist. "In Mecklenburg-Vorpommern gibt es so gut wie keine Christen mehr, in Bayern noch stark katholisch geprägte Gegenden, in Schleswig-Holstein leben dagegen deutlich mehr Protestanten als Katholiken", erläutert Riegel.
Der Trend ist allerdings klar: In Zeiten, in denen jedes Jahr hunderttausende Menschen aus den großen Kirchen austreten, gerät auch der konfessionelle Religionsunterricht unter Druck. Am deutlichsten wird das in Berlin: Dort ist nicht das Fach Religion verpflichtend, sondern Ethik. Wer mag, kann noch freiwillig Religion dazu wählen – muss die Zeit dafür aber extra investieren. In Hamburg gibt es den "Religionsunterricht für alle". 2014 wurde er von der evangelischen Kirche initiiert, schon länger machen Juden und Muslime mit, seit 2022 auch die katholische Kirche. In anderen Bundesländern gibt es schon seit Jahrzehnten einen Sonderweg: In Bremen besuchen Schülerinnen und Schüler schon seit den 1950er Jahren das konfessionsübergreifende Fach "Bibelkunde", in Brandenburg seit den 1990er Jahren "Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde" (kurz LER). In allen anderen Bundesländern existiert zwar weiter der konfessionelle Religionsunterricht – allerdings mit immer kleinerer Zielgruppe. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel ist der Anteil christlicher Schüler von rund 85 Prozent im Schuljahr 2004/2005 auf derzeit rund 55 Prozent gesunken. Von 2012 bis 2021 nahm die Zahl der katholischen Schüler um etwa 196.000 ab, die der evangelischen um 183.300. Der Anteil muslimischer Schüler beläuft sich dagegen inzwischen auf rund 17 Prozent.
Schüler fragen nicht nach Mariologie oder katholischem Ämterverständnis
So wundert es nicht, dass in Nordrhein-Westfalen ähnlich wie in Niedersachsen und Baden-Württemberg an einigen Schulen auch "konfessionell-kooperativer Religionsunterricht" (KoKoRu) angeboten wird. Seit 2018 lernen katholische und evangelische Schülerinnen und Schüler zusammen in einer Gruppe, evangelische und katholische Lehrkräfte wechseln sich ab. Für NRW hat Religionspädagoge Riegel zusammen mit seiner Kollegin Mirjam Zimmermann das Modellprojekt kürzlich wissenschaftlich evaluiert. Die Rückmeldungen seien positiv. "Bei Schulleitungen, Lehrern, Eltern und Schülern findet die neue Organisationsform durchgehend eine hohe Akzeptanz. Es gab nur sehr wenige kritische Stimmen", fasst Riegel zusammen. Das Wissen über die eigene Konfession ist demnach weiterhin hoch, gleichzeitig entwickeln Schülerinnen und Schüler ein positives Bild der anderen Konfession – und werden sich im Idealfall des eigenen Standpunkts umso sicherer. Der KoKoRu hat laut Riegel auch pädagogische Vorteile: "Die Schüler können in ihrer Klasse zusammenbleiben und müssen sich nicht an eine neue Gruppe gewöhnen. So herrscht in der Regel eine gute Lernatmosphäre."
Der Tübinger Religionspädagoge Matthias Gronover kennt den KokoRu aus Baden-Württemberg. Gemeinsamen Religionsunterricht gibt es nach seinen Angaben in der Praxis je nach Schulform aber schon viel länger – auch ohne einen eigenen Namen. "In der ersten Klasse der Grundschule geht es erstmal darum, dass die Kinder überhaupt ein Grundverständnis für Religion entwickeln. Da wäre es kontraproduktiv, die Klassen zu teilen." Auch in der Berufsschule werde der Religionsunterricht aus Praktikabilitätsgründen schon lange im Klassenverband gegeben. Überhaupt beobachtet Gronover im Schulalltag keinen großen Unterschied zwischen katholischem und evangelischem Religionsunterricht. Schon die Rahmenvorgaben von Deutscher Bischofskonferenz und Evangelischer Kirche in Deutschland seien ähnlich. Und: "Die konfessionstrennenden Aspekte wie Mariologie oder das katholische Ämterverständnis interessieren die Schülerinnen und Schüler nicht. Weiter weg von ihrer Lebenswirklichkeit könnte es kaum sein", so Gronover. "Sie fragen nach dem Leid in der Welt, wie die Schöpfung bewahrt werden kann und was mit uns nach dem Tod passiert".
Religionsunterricht oder Religionskunde?
Für die Zukunft des Religionsunterrichts gibt es daher auch wichtigere Fragen als die nach seiner Organisationsform, findet der Theologe. Viel wichtiger sei die Qualität, also die Art, wie der Stoff vermittelt wird. Die Zehn Gebote zum Beispiel können Lehrerinnen und Lehrer eher trocken-geschichtlich vermitteln oder so, dass den Schülern die Relevanz unmittelbar deutlich wird: Wie kann man das Leben in unserem Dorf oder Stadtteil ordnen? Welche Regeln muss es da geben? Auch das können Leitfragen sein. "Gerade in einer säkularisierten Welt, in der die Schüler kaum noch Kontakt mit Religion haben, muss der Reli-Unterricht die kurze Zeit, die er hat, möglichst gut nutzen", sagt Gronover. Ob nun zusammen oder nach Konfession getrennt – Religionsunterricht müsse den Kindern zu religiöser Mündigkeit verhelfen. "Wenn sie ihren eigenen religiösen Standpunkt formulieren können und dabei auch Sensibilität und Respekt für die andere Konfession und Religionen entwickeln, dann ist sehr viel erreicht."
Geht es mit der demografischen Entwicklung in Deutschland weiter wie bisher, dann könnte sich in nicht allzu ferner Zukunft nicht nur die Frage nach konfessioneller, sondern auch nach religionsübergreifender Kooperation beim Religionsunterricht stellen. Eine Möglichkeit könnte dann auch Religionskunde sein – also ein nicht von den Religionsgemeinschaften selbst verantworteter Unterricht, sondern eine Form, in der quasi neutrale Religionswissenschaftler Wissen über die verschiedenen Religionen vermitteln. Mit diesem Gedanken will sich Matthias Gronover aber nur ungern anfreunden. Aus seiner Sicht ist es für den Erfolg des Religionsunterrichts entscheidend, dass die Lehrer den Schülern den Glauben vorleben und einen echten Bezug zur Religion haben. Bei einem kooperativ-interreligiösen Unterricht und sich abwechselnden Lehrkräften könnte das bis zum Ende gedacht problemlos auch bedeuten, dass ein Christ den muslimischen Kindern den Propheten Mohammed näherbringt – und eine Muslima den katholischen Kindern etwas über Jesus erklärt.
Mit Dänemark, England, Wales und Schottland gibt es in Europa allerdings heute schon Länder, in denen religionskundlicher Unterricht die Regel ist. "Und das hatte bisher keine Nachteile für das Leben dort", findet Ulrich Riegel. "Die Zukunft des Reli-Unterrichts in Deutschland ist ganz sicher religionsübergreifend kooperativ, ob er auf lange Sicht auch weiter von den Konfessionen getragen wird, wird sich noch zeigen".
So oder so sehen Riegel und Gronover in einem Religionsunterricht gerade in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft eine große Chance: Gerade bei wenigen Vorkenntnissen könne das Fach zur Allgemeinbildung beitragen, die Verständigung der Religionen untereinander und die interreligiöse Kompetenz von Schülerinnen und Schülern verbessern. "Und das ist in einer multireligiösen Gesellschaft doch ein unschätzbarer Wert", sagt Riegel.
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February 11, 2023 at 02:33PM