Der Erfolg der Pfarrerstöchter

Der Erfolg der Pfarrerstöchter

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Johanna Haberer und Sabine Rückert erzählen seit dem Dezember 2019 „Unter Pfarrerstöchtern“ Geschichten aus der Bibel. Was macht den ZEIT-Podcast so erfolgreich?

Die Bibel und ihre Texte verschwinden aus dem kulturellen Gedächtnis. Das merkte Sabine Rückert vor etwas mehr als drei Jahren als Gästin im „Neo Magazin Royale“ von Jan Böhmermann. Böhmermann schien nicht recht zu wissen, was mit dem Gleichnis vom verlorenen Sohn anzufangen ist – oder stellte sich zumindest geschickt unwissend. Sie müsse dann wohl einen Bibelpodcast machen, beschloss Rückert.

Gesagt, getan. Zusammen mit ihrer Schwester Johanna Haberer, Theologin und bis gerade eben noch Professorin für Christliche Publizistik an der Universität Erlangen, erzählt die stellvertretende Chefredakteurin der ZEIT biblische Geschichten nach. Seit Dezember 2019 wurden über 70 Folgen produziert – und finden sich dauerhaft in den Top 100 der Podcast Charts. Obwohl nach der Einstellung des analogen IKEA-Katalogs die Heilige Schrift wieder das meistaufgelegte Buch der Welt geworden sein mag, ist das eine kleine Überraschung. Während einige Regionalzeitungen noch ein „Wort zum Sonntag“ abdrucken, verbannt die ZEIT normalerweise die Erregungen für das fromme Gefühl in die Beilage Christ und Welt.

Kritische und empathische Leserinnen

Keine Predigten, sondern Wertschätzung von Literatur, so lässt sich der selbstgesteckte Auftrag des Formats zusammenfassen. Der Text solle weitestgehend für sich sprechen. Mal von einem Sprecher vorgelesen, mal paraphrasiert. Ein nervöses Augenbrauenzücken lässt sich nicht zurückhalten, wenn jemand performativ verkündet, nicht zu verkündigen.

Tatsächlich halten aber Haberer und Rückert, Töchter des Pfarrers Georg Rückert, ihr Versprechen. Sie sind kritische und empathische Leserinnen, die sich nicht scheuen, die eine oder andere Perikope (Abschnitt eines Bibeltextes, in der Lutherbibel mit Überschriften versehen, Anm. d. Red.) zu verreißen, nachdem sie sich hörbar Mühe gegeben haben, jedem Text etwas abzuringen. Sie fühlen mit, wenn „der Esau“ um seinen Segen betrogen wird. Ärgern sich, wenn Gott bei dieser Schiebung tatenlos zuschaut.

Sehr behutsam und leicht nachvollziehbar wird notwendiges Wissen rund um die erzählte Zeit vermittelt. Besonders eindrücklich wird das an den aktuellen Folgen, die sich der Saga um König David widmen. Hier wird sehr regelmäßig auf die Schriftrollen aus Qumran oder die deuteronomistische Bearbeitung verwiesen, um die Polyphonie der Erzählungen rund um den Harfenvirtuosen, Ehebrecher, Warlord und Staatsmann David verständlicher zu machen. Sogar Querverweise in der Bibel werden sich getraut. Wohlgemerkt: Die ZEIT ist keine Kirchenzeitung!

Das sind alles Dinge, von denen ich ohne meinen Studienhintergrund keine Ahnung hätte. Mein ähnlich wie ich überwiegend bildungsbürgerlich versautes Umfeld, aus dem sicher jede:r Zweite nicht einmal zu Heiligabend in die Kirche geht, findet das aber ganz lehrreich. Die kurzen Ausflüge in die historisch-kritische Exegese fügen sich stets harmonisch in die Intention ein, die Geschichten verständlich, verfügbar und lebendig zu machen.

Zu diesem Zweck werden auch anderer literarische Texte, Gedichte, Anekdoten und Zeitungsartikel herangezogen. Das kann naheliegend Goethes Faust anlässlich des Johannesprologs sein, wenn das Wort zum Fleisch wird. Es klappt aber auch im Fall von Tiger Woods und dessen Eltern, die das Verhältnis des gescheiterten Erziehers und Propheten Eli zu seinen Söhnen beleuchten soll. Von Tiger Woods hatte ich mal im Feuilleton gelesen.

Von ein paar Sonderfolgen anlässlich hoher Feiertage abgesehen, nimmt sich das Format gewissenhaft alle Erzähltexte der Bibel von vorne an vor. Deswegen kamen bisher fast ausschließlich alttestamentliche Figuren und Stoffe zum Klingen. Das schafft nicht einmal die neuere Perikopenrevision der Evangelischen Kirche von 2018, mit der die hebräische Bibel häufiger nicht nur am Ambo vorgelesen, sondern von der Kanzel gepredigt werden soll.

Grade für neugierige Bibeleinsteiger:innen ist das aber grade richtig. Die lesen nämlich in der Regel nicht nach Perikopenordnung von 2018, 1978 oder Missale Romanum, sondern das ganze Ding von vorn nach hinten. „Unter Pfarrerstöchtern“ kann helfen, diesen ambitionierten Vorsatz beim Stammbaum zwischen Adam und Noah zu brechen. Im Gegensatz zu dem etablierten Genre „Buch X in Y Minuten“ nimmt sich der Podcast viel Zeit, über Abraham, Batsheba und Cherubim zu meditieren.

Die Bibel wie Verbrechen oder Sex

Keine Überraschung, dass den beiden erfahrenen Medienmacherinnen die Balance zwischen lockerem Austausch, Expertise und Hörer:innenführung gut gelingt. Die professionelle Nachbearbeitung tut dabei ihr Übriges. Rückert, die auch den noch bekannteren True-Crime-Podcast Ihrer Zeitung co-moderiert, übernimmt hier wie dort häufig die Rolle der Überschriftenredaktion. Durch provokative oder neugierige Fragen, steile Thesen oder Gegenwartsbezüge bringt sie das Gespräch ins Rollen, spricht aus, was die Zuhörenden sich bisher nicht auszusprechen gewagt haben.

Es ist dieser ergebnisoffene Austausch, der Podcasts von Hörbüchern oder vom geschriebenem Wort abhebt und ideal ist für jene peinlichen Themen, über die man gerne sprechen würde, aber sich auf keinen Fall traut. Bibelgeschichten fallen in dieses Raster ebenso gut wie Verbrechen oder das eigene Sexleben.

Diese Offenheit bedeutet aber eben auch, dass Eingeworfenes nur bedingt zu Ende diskutiert werden kann. Vieles bleibt im Raum stehen. So bringt Rückert einmal ein: „Die Bibel ist ja generell ein großes Buch gegen die Angst, würde ich mal sagen. Wie Religion ja ohnehin, sagen wir mal, eine Erfindung ist gegen die Angst.“ Relativierend, aber nicht widersprechend antwortet Haberer: „Meine Formulierung ist: Es ist ein Regelwerk gegen Schuld und Angst“. Ich möchte mich bei den Münsteraner Kaninchen entschuldigen, die ich mit meinem wütenden Gebrummel ins Gebüsch verscheuchte, als beide einfach weitermachten.

Auch eher unglücklich gezogene Parallelen zur Tagespolitik holen mich nicht ab, wenn etwa das Gespräch über negative Königtümer direkt zu Trump, Kim Jong Un oder Putin übergeht. Insgesamt aber überzeugt „Unter Pfarrerstöchter“, weil hier tatsächlich nicht referiert oder gepredigt wird.

Nicht trotz, sondern grade wegen Rückerts und Haberers profanen Schnackens über und aus den Texten, bei dem Anstößiges auch mal „scheiße“ sein darf, gewinnen die biblische Stoffe Deftigkeit. Ob mich etwas in meinem Glauben ansprechen darf, was gar nicht verkündigen will? Sabine Rückert und Johanna Haberer erzählen, was nicht erklärt werden kann.

#abgehört – Podcast-Kritiken in der Eule

Von 2017 bis 2020 veröffentlichten wir in der Eule unter dem Titel „abgehört“ eine Reihe von Kritiken „christlicher“ Podcasts: Podcasts zu klassischen Kirchenthemen und solche, die Neuland betreten. Podcasts, die von Theolog:innen gemacht werden und sich um Bibel und Predigt drehen, und Podcasts zu (Rand-)Themen, die mehr Aufmerksamkeit verdienen. Außerdem erschienen in der Kolumne „Wie Radio“ Artikel zu den Hintergründen des Podcast-Booms.

Alle „Wie Radio“-Beiträge inkl. #abgehört.

Religion

via REL ::: Die Eule https://eulemagazin.de

July 26, 2022 at 08:10AM