Ein Tablet für jeden Schüler? Pädagogik-Professor Zierer warnt vor „Digitalisierungswahn“ in der Bildungspolitik

AUGSBURG. Die Ankündigung der bayerischen Staatsregierung, alle Schüler mit Tablets auszustatten, sorgt bei Pädagogen nicht zwingend für Begeisterung. Ein prominenter Bildungsforscher sieht gar einen «Digitalisierungswahn» heraufziehen. Er verlangt: Mehr Lehrpersonal statt mehr Technik.

„Beim Lernen spricht vieles für das Analoge.“ (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Die Pandemie hat die Mängel bei der Digitalisierung der deutschen Schulen gnadenlos offengelegt. In Zeiten der Corona-Schulschließungen war Fernunterricht oft nur möglich, wenn Lehrerinnen und Lehrer sowie die Kinder privat über Computer oder Tablets verfügten. Doch die Pläne, im Klassenzimmer künftig noch mehr mit moderner Technik zu arbeiten, sind trotzdem nicht unumstritten. Pädagogen warnen davor, Jungen und Mädchen künftig nur noch am Rechner sitzen zu lassen.

Klaus Zierer war Grundschullehrer – und ist heute einer der renommiertesten Bildungsforscher in Deutschland. Foto: privat

Der Augsburger Schulpädagogik-Professor Klaus Zierer, der durch zahlreiche Veröffentlichungen bekannt ist („Der Sokratische Eid“ – News4teachers berichtete), sieht gar einen «Digitalisierungswahn» an den Schulen. Anlass ist die Ankündigung der CSU, bis zum Jahr 2028 alle Schülerinnen und Schüler in Bayern mit einem Tablet für den Unterricht auszustatten. Dies bezeichnete Zierer als «bildungspolitischen Aktionismus».

Es sei unverständlich, wenn in Zeiten von Finanznot, Erosion der Demokratie und Bildungskrise der Heilsbringer in der Digitalisierung gesucht werde, sagte Zierer. Diese sei mitverantwortlich für die genannten Probleme. «Das Ganze gleicht einem Digitalisierungswahn!» Andere Länder wie Frankreich, Schweden oder die Niederlande würden aufgrund der Studienlage bereits umdenken.

Der Ordinarius für Schulpädagogik der Universität Augsburg begründete seine Kritik damit, dass die Erkenntnisse der Bildungsforschung zu digitalen Medien eindeutig seien. Bücher und Arbeitshefte seien effektiver für Wissensaufnahme und Informationsverarbeitung, erklärt er. «Kinder gehen bei Tablets schneller über den Text hinweg und erreichen nur oberflächliches Lesen, während bei der Rezeption von Texten auf Papier langsamer und damit fokussierter sowie konzentrierter gehandelt wird.»

Gedruckte Schulbücher seien didaktisch einfach wertvoller als digitale Varianten. «Auch wenn digitale Medien mehr Möglichkeiten eröffnen: Beim Lernen spricht vieles für das Analoge», sagte Zierer. Er warnte, dass die häufige Nutzung von Handys, Tablets oder Computern den Wortschatz der Kinder reduziere und die Fähigkeit zur Textproduktion hemme.

Eine Studie, die dies herausgearbeitet hat, stammt vom Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) der Technischen Universität Dortmund. Dort wurde in einer bundesweiten Untersuchung, die vom Bundesbildungsministerium und der Kultusministerkonferenz gefördert wurde, der Wortschatz und das Leseverhalten von 4611 Viertklässlern aus 252 Schulen überprüft.

Dabei ging es nicht nur um die Nutzung von Büchern in der Schule, auch das Lesen außerhalb des Klassenzimmers wurde analysiert. «Die Ergebnisse zeigen, dass Kinder, die selten Bücher lesen und häufig an digitalen Geräten, den höchsten Förderbedarf hinsichtlich ihres Wortschatzes aufweisen», heißt es in der Ende 2022 vorgelegten Studie. Die Forscher sahen positive Auswirkungen, wenn die Kinder Bücher lesen. Negativ sei hingegen, wenn sie in der Freizeit viel an digitalen Geräten lesen (News4teachers berichtete ausführlich über die Studie – hier.)

Wie digitale Medien in den Klassenzimmern sinnvoll genutzt werden können, wurde im Freistaat seit 2017 über mehrere Jahre im Rahmen des Versuchs «Digitale Schule 2020» an Modellschulen untersucht. Im Abschlussbericht heißt es etwa zum Schreiben lernen, dass ein Tablet mit einer entsprechenden App dabei helfen könnte, motorische Fähigkeiten wie Schwünge bei Wörtern und Buchstaben zu üben.

„Viel sinnvoller wären wirksame Maßnahmen zur Behebung des Lehrermangels und Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Lehrer“

Doch eine Abkehr vom linierten Heft ist das nicht: «Es gibt keinen Zweifel an der Notwendigkeit, in der Grundschule mit der Hand auf Papier schreiben zu lernen, unter anderem auch wegen der damit verbundenen Entwicklung feinmotorischer und kognitiver Fertigkeiten», heißt es im Bericht.

Zierer hält von einem Ersatz von Schulheften durch Tablets ebenfalls wenig und verweist auf eine weitere Untersuchung aus den USA. Das Schreiben per Hand sei demnach dem Schreiben mit digitalen Endgeräten wie Computern oder auch Tablets deutlich überlegen.

Die flächendeckende Ausstattung mit Schultablets werde den Kindern mehr schaden als nutzen, warnte Zierer. Die Politiker sollten sich seiner Ansicht nach eher den zentralen bildungspolitischen Herausforderungen zuwenden. «Viel sinnvoller wären wirksame Maßnahmen zur Behebung des Lehrermangels und Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Lehrer, zur Intensivierung der Elternkooperation und vor allem zur systematischen Behebung von Lernrückständen schon bei Grundschulkindern.»

CSU-Generalsekretär Martin Huber hatte angekündigt, dass spätestens in fünf Jahren alle Kinder im Freistaat ein Tablet für den Unterricht gestellt bekommen. Dass alle Schülerinnen und Schüler ein Tablet bekommen sollen, hatte die Staatsregierung zuvor schon mehrfach erklärt – ohne aber einen Termin zu nennen. Nach Angaben des Kultusministeriums in München stehen bislang bereits mehr als eine halbe Million Laptops und Tablets an den Schulen zur Verfügung. Zum Vergleich: Im Schuljahr 2021/22 gab es laut Schulstatistik in Bayern 1,26 Millionen Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen. News4teachers / mit Material der dpa

Prof. Klaus Zierer im News4teachers-Podcast:

Schulschwatz – der Bildungstalk: Sind die Grundschulen schuld am Leistungsabsturz? Vom Zerrbild der „Kuschelpädagogik“

 



Title: Ein Tablet für jeden Schüler? Pädagogik-Professor Zierer warnt vor „Digitalisierungswahn“ in der Bildungspolitik
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Source: News4teachers
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Date: August 15, 2023 at 11:50AM
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