Gastkommentar zur PISA-Debatte: Warum die Personalie Schleicher nicht das Kernproblem ist

BERLIN. Nachdem PISA-Koordinator Andreas Schleicher mit neuer Kritik an der Lehrerschaft in Deutschland nachlegte, forderte der Philologenverband den zeitweiligen Ausstieg aus PISA – zumindest so lange, wie der OECD-Direktor Schleicher an der Spitze des Studienverbunds steht (News4teachers berichtete). Unser Gastkommentator, Prof. Ralf Tenberg, hält das für „wenig durchdacht“. Denn das Kernproblem ist nicht die Personalie Andreas Schleicher. Sondern eine Bildungspolitik, die auf PISA nicht angemessen reagiert.

Die Leistungskurve weist nach unten. Foto: Shutterstock

PISA aussetzen – das wäre der Untergang

Seit 2000 nimmt Deutschland als OECD-Mitglied am Programme for International Student Assessment, kurz: PISA, teil. Ähnlich wie in den olympischen Spielen – nur nicht alle vier, sondern alle drei Jahre – vergleicht man sich mit anderen Staaten. Die Disziplin ist dabei nicht Weitsprung oder Fußball, sondern Bildung, gemessen und bewertet werden muss trotzdem, aber mit anderen Instrumenten und Maßstäben.

Der ursprüngliche Ansatz erfolgt in einer Erhebung der Kompetenzen im Lesen, Rechnen und den Naturwissenschaften innerhalb einer Alterskohorte. Hinzu kamen wechselnde Querschnittsthemen wie Lernstrategien, Problemlösung, informationstechnische Grundbildung. Über die zurückliegenden zwei Jahrzehnte war Deutschland im Ländervergleich meistens im Mittelfeld, nie in einer Spitzenposition und dabei oft hinter Staaten mit einer deutlich schwächeren Volkswirtschaft. Das war am Anfang ernüchternd – nach der ersten PISA-Veröffentlichung sprach man von einem PISA-Schock – dann hat man sich aber wohl daran gewöhnt, ähnlich wie bei unserer Fußball-Nationalmannschaft: „wir sind halt schlecht, was soll‘s“.

Die Befunde von 2022 zeigen nun einen Absturz. In den drei Basiskompetenzen liegen die deutschen Schüler auf den bislang niedrigsten Punkterängen, besonders ausgeprägt in Mathematik und Naturwissenschaften. Die Differenz zwischen den Ergebnissen dieser und der vorausgehenden Erhebung entspricht dem Lernfortschritt eines 15-Jährigen eines ganzen Schuljahres. Im internationalen Vergleich liegen vor uns Kanada, Schweiz, Estland, hinter uns Mexiko, Brasilien, Indonesien. Der oberste PISA-Koordinator Andreas Schleicher hat klar geäußert, wo er hier die Hauptverantwortlichen sieht: Es sind unsere Lehrer, die einfach nichts mit den PISA-Befunden anfangen können und überhaupt einfach einen schlechten Job machen. Nebenbei legte er auch ein despektierliches Lehrerbild offen, er sieht sie als Befehlsempfänger in einem intellektuell wenig anspruchsvollen Beruf, die ständig wegen Überlastung quengeln.

Daraufhin fordert nun der Philologenverband, so lange nicht mehr an PISA teilzunehmen, wie Schleicher hier im Lead ist. Eine verständliche, aber wenig durchdachte Reaktion, denn was sollte an PISA besser werden, wenn Schleicher ausgetauscht würde? Klar, sein Mindset ist – bezogen auf die Interpretation der Befunde – nicht optimal, aber es sind andere, die dafür sorgen, dass die Millionen, die Jahr für Jahr in dieses aufwändige Programm investiert werden, nur dem Stoffwechsel dienen, denn die Auftraggeber von PISA, also die Kultusministerien der Länder, haben noch nie auf die Befunde adäquat reagiert. Nach den Veröffentlichungen ist immer ein wenig Hektik erkennbar und man diskutiert, wie man damit umgeht. Konsequente und vor allem wirksame Maßnahmen bleiben aber bislang aus. Also: Entweder PISA abschaffen, oder dafür sorgen, dass substanziell reagiert wird, oder weiterhin Steuergelder verschwenden und Lehrer dafür verantwortlich machen.

Dr. Ralf Tenberg ist Professor für Technikdidaktik und Geschäftsführer des pädagogischen Instituts der Universität Darmstadt. Er ist Gutachter in universitären Berufungsverfahren, nationalen und internationalen Förderlinien, Mitbegründer und Herausgeber des International Journal of Technical Education (JOTED) und Redakteur der Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik (ZBW).

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Title: Gastkommentar zur PISA-Debatte: Warum die Personalie Schleicher nicht das Kernproblem ist
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Source: News4teachers
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Date: February 2, 2024 at 09:56AM
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