Lehrermangel: Warum Gymnasiasten Lehrer werden wollen (oder eben nicht) – aufschlussreiche Ergebnisse einer Umfrage

Lehrermangel: Warum Gymnasiasten Lehrer werden wollen (oder eben nicht) – aufschlussreiche Ergebnisse einer Umfrage

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BERLIN. Werbung? Bessere Bezahlung? Vereinfachter Quereinstieg? Nichts hat im Kampf gegen den Lehrermangel bisher durchschlagenden Erfolg gehabt. Jetzt ist die Zeit gekommen, sich stärker mit den Entscheidungsgrundlagen junger Leute zu beschäftigen, also nach den motivatorischen Ursachen der Lehramtswahl zu fragen. Das könnte ein weiterer Baustein zur Klärung des Mangels sein – meint unser Gastautor, der Psychologe und Bildungsforscher Prof. Dr. Rainer Dollase. Er berichtet von den Ergebnissen einer Umfrage unter Gymnasiasten, die er selbst mit durchgeführt hat.

Obl ein Gymnasiast Lehrer werden möchte – oder nicht -, hängt stark von den eigenen Erfahrungen in der Schule ab. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Warum werden Sie nicht Lehrer oder Lehrerin? Ergebnisse einer Umfrage unter Oberstufenschülern der NRW-Gymnasien

Seit wir wissen, dass Lehrkräfte Mangelware sind, dürfen wir nichts unversucht lassen, mehr junge Menschen für den Lehrberuf zu gewinnen. Aktuelle Studien – so eine vom VBE in Auftrag bei Klaus Klemm gegebene – kommen zu dramatischen Defiziten, die einschlägige Berechnungen der Ministerien noch übertreffen – statt 14.000 Lehrkräften sollen bis 2030 rund 80.000 fehlen. Eine kleinere Studie von McKinsey („mehr als 400“ Befragte) sorgt sich, dass man auch die Top Schüler fürs Unterrichten gewinnen kann. Ratlosigkeit überall – wie diese Lücke geschlossen werden kann.

Eine Studie, die sich mit den Ursachen für die Abstinenz der Berufswahl Lehrer oder Lehrerin beschäftigt, also die Frage stellt: „Warum werden sie nicht Lehrer oder Lehrerin?“, wurde kürzlich von der Landeselternschaft der Gymnasien NRW (Im Herbst und Winter 2021) – auch im Blick auf die im Frühjahr 2022 stattfindende Landtagswahl – unterstützt. Wir konnten den entsprechenden link zu einer Onlineumfrage an fast alle Gymnasien des Landes verteilen. Auch für die Umwandlung des Fragebogens in eine Onlineform sei Dank.

Insgesamt 2.499 Schüler und Schülerinnen (durchschnittliches Alter – Median – 17 Jahre) – von denen 1.363 alle Fragen beantworteten, nahmen an der Befragung teil – die Stichprobe kann wegen der potentiellen Teilnahme fast aller Schüler als repräsentativ für NRW gelten.

„Ich hätte keine Lust, mich so mit Schülern und Schülerinnen und Eltern zu streiten, wie das heute oft üblich ist“

Was kommt dabei heraus? „Nur“ 11% wollen das Lehramt studieren – 46% andere Fächer. Und 28% wissen noch nicht, was sie studieren wollen. Mit einer anderen, komplexeren Fragestellung kommt man auf etwas höhere Werte fürs Lehramt (14%), ermittelt zusätzlich rund 26%, für die grundsätzlich auch das Lehramt in Frage kommen könnte, die aber einen anderen Beruf besser finden.

Ob solche Zahlen „gut“ oder „schlecht“ sind – kann man noch nicht abschließend beantworten. Sie sind normal bzw. etwas höher als die früheren Werte. Nach einem praxisfernen Lehramtsstudium (15% brechen den BA ab) und einem stressigen Referendariat (Merke: Stress führt nicht zu guten Lehrkräften) verzichten weitere Prozente und gehen nicht in den Schuldienst. Ansonsten ging man 2017/2018 davon aus (zit. nach Deutsches Schulportal), dass 8% der Abiturienten im Schnitt Lehramt studieren – Riesenunterschiede von Bundesland zu Bundesland sind selbstverständlich. Unsere Zahlen sind normal bzw. etwas höher als die Faustregel 8%. Den Lehrermangel bedingt auch das höhere Kontingent von Teilzeitbeschäftigten – wie in allen anderen Berufen auch.

Interessant ist, was die Studie darüber aussagt, wie sich 17-jährige Gymnasiasten die Zukunft des Lehrerberufs vorstellen bzw. welches Image sie vom Lehrberuf haben – schließlich erleben sie seit Jahren hautnah, was Lehrer erleben und tun.

Die als klassisch kolportierten „Vorteile“ des Lehrberufes – Ferien und Freizeit, Familienfreundlichkeit, Bezahlung höherer Dienst, relative Selbständigkeit, Unkündbarkeit und Umgang mit jungen Menschen – erreichen Noten zwischen „gut“ und „befriedigend“. Längst werden in der freien Wirtschaft gut bezahlte und sichere jobs mit mehr work-life -balance angeboten.

Wer nicht Lehrer werden will, gibt folgendes zu Protokoll:

  • „Ich hätte keine Lust, mich so mit Schülern und Schülerinnen und Eltern zu streiten, wie das heute oft üblich ist“
  • „Aufgrund meiner schulischen Erfahrungen kam der Lehrerberuf für mich nie in Frage“
  • „Die Erfahrung mit dem Lehrerberuf war so schlecht, dass ich nie Lehrer werden wollte.“

Wer hingegen Lehrer werden will sagt:

  • „Die Schulzeit hat mir gezeigt, dass der Lehrerberuf für mich ideal ist.“
  • Oder aber – die „geborenen“ unirritierbaren Lehrer sagen: „Ich habe mir immer schon gewünscht, Lehrer zu werden. Meine eigenen Schulerfahrungen waren weniger wichtig.“ Letztere „hard core“ Aspiranten für den Lehrberuf machen nur 4% der Stichprobe aus.

Was zeigen diese Antworten: Lehrer wird, für wen die eigene Schulzeit positiv verläuft – Lehrer wird nicht, wer das dort Erlebte einfach gräßlich findet.

Soweit so banal.

Nicht banal ist, dass Schüler und Schülerinnen die Zukunft des Lehrerberufs nicht als einhellig rosig, ponyhof-like und gemütlich darstellen – egal, ob sie nun Lehrer werden wollen oder nicht:

  • „In den Schulen der Zukunft werden mehr Schüler:innen mit Zuwanderungshintergrund lernen.“
  • „Die Eltern werden in Zukunft den Lehrern wegen der Notengebung noch mehr Schwierigkeiten machen.“
  • „Die Zahl der „schwierigen“ und den Unterricht störenden Schüler wird zunehmen.“ 

Und – nun keine Wunder mehr – was fänden junge Leute als besonders angenehm?:

  • „Unterricht halten ohne große Störungen durch Schüler“

Kein Wunder, weil schon ein Bericht des Aktionsrats Bildung („Psychische Belastungen und Burnout beim Bildungspersonal“, 2014) gezeigt hat, dass Stress in den Lehrberufen weitaus höher ist als in allen anderen Berufen. Nur in diesen Berufen wird dem Personal nicht Folge geleistet (durch die Schüler) und mit Ignorieren und rebellieren reagiert. Das gibt es nicht mal bei der Polizei oder in der Intensivpflege. Du kannst nicht tun, was Du geplant hast – Du wirst permanent unterbrochen. Dein Tun ist eine Sysiphos-Tätigkeit – Du rollst den Stein den Berg hinauf und er rollt sofort wieder runter.

Weil es so unangnehm ist, in lauten, lärmenden und störenden Klassen zu unterrichten, gibt es ein Statement, dass insgesamt die miesesten Noten bei den 17-Jährigen eingebracht hat:

  • „In meinem Seminar im Lehrerstudium spielt Praxis keine Rolle“ (Note ausreichend minus 4,7 – also durchgefallen)

Weil die Herstellung von Unterrichtsdisziplin nicht erreicht wird, die Heranwachsenden dieses Chaos selber als unangenehm finden, ist ihnen eine Ausbildung ein Graus, die nicht einübt, wie man Disziplin herstellt. Und Hochschullehrende und Fachleiter, die dieses nicht vormachen können, sind abschreckende Beispiele. Oder?

„Lehrer wird, wer Vorbild für Schüler und aktiver Gestalter von Lernprozessen sein möchte“

Auch in der Unterrichtsgestaltung gibt es – ob man Lehrer werden will oder nicht – ein paar Favoriten:

  • „Wir können selber was experimentieren und ausprobieren.“
  • „Wir diskutieren in der ganzen Klasse, der Lehrer nimmt Schüler dran, die sich gemeldet haben.“
  • „Partnerarbeit – wir müssen mit unserem Sitznachbarn Aufgaben bearbeiten.“

Ganz unangenehm werden die folgenden Corona-typischen Methoden gefunden:

  • „Wir müssen zuhause arbeiten (Hausaufgaben)“
  • „Einzelarbeit mit Arbeitsblatt – wir lösen Aufgaben alleine“
  • „Wir lesen einen Text, der anschließend besprochen wird. Lehrer stellt dazu Fragen.“

Allerdings – entgegen unseren Erwartungen- differenziert die Vorliebe für Unterrichtsmethoden nicht zwischen Lehramtswilligen und Ablehnern.

Entgegen dem Zeitgeist dominieren bei den 17-jährigen Lehramtsinteressenten Sätze wie „Der Lehrer als Vorbild für Schüler“ (Note 1,5) (als Rollenbezeichnung) oder „Der Lehrer als aktiver Gestalter von Lernprozessen“(Note: 1,8) statt als „Moderator selbstgesteuerter Lernprozesse“ (Note: 2,5).

Wir fassen die deutlichen Ergebnisse der Umfrage kurz zusammen:

  • Lehrer wird nicht, wer die eigene Schulzeit negativ erlebt.
  • Wer nicht Lehrer werden möchte, scheut problematische Situationen im Unterricht – will weder schwierige Unterrichtssituationen noch sich als Problemlöser verstehen.
  • Lehrer wird, wer Vorbild für Schüler und aktiver Gestalter von Lernprozessen sein möchte.

Ob LA Nachwuchs oder nicht – von der Zukunft der Schule erwartet der Nachwuchs mehr Schwierigkeiten mit Eltern und mehr schwierige Schüler.

Im Großen und Ganzen wurde kein Unterschied gefunden in der Häufigkeit der Erfahrung und Bewertung von Unterrichtsformen zwischen zukünftigen LA Studenten und anderen.

Schlecht finden beide Gruppen, wenn das Lehrerimage in der Öffentlichkeit schlecht beurteilt wird, wenn die Lehrerausbildung in der Uni praxisfern ist, und das Privatleben der Lehrer in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Gut wird hingegen beurteilt: Klassenfahrten, Unterricht ohne Störungen, Lehrerausflug.

Man könnte die Befunde noch weiter zusammenfassen: Die aktuelle Situation des Tätigkeitsfeldes unserer Lehrkräfte wird von den Schülern und Schülerinnen realistisch wahrgenommen. Dieses Tätigkeitsfeld erscheint nur der ohnehin zum Lehrberuf entschlossenen kleinen Gruppe von Schülern positiv. Für die Unentschlossenen und den eventuellen Lehrernachwuchs ist der Beruf unattraktiv geworden und sie wenden sich von ihm ab.

Der Lehrernachwuchs möchte nur am Gymnasium und/oder Grundschule unterrichten

Der Lehrermangel entsteht also auch (andere Faktoren s.o.) in der aktuellen Situation unserer Schulen. Wer einen zahlenmäßig gesichert großen Lehramtsnachwuchs haben möchte, muss zeigen, dass der Beruf attraktiv ist – also die Jetztsituation der Lehrkräfte in den Klassenzimmern verbessern. Zum Beispiel: durch objektive Benotung, die statt der verfälschbaren Beurteilung der mündlichen Mitarbeit und anderer weicher Notenfindungen über den Zweifel an ihrer Gerechtigkeit erhaben sein könnte, durch Disziplin und durch wirksame praktische und wissenschaftliche Reflektion und Überwindung von Heterogenitätsproblemen im Schatten der hehren Ziele von Inklusion und Integration.

Ein letzter Befund, der für kontroverse Interpretationen sorgen wird: Der Lehrernachwuchs möchte nur am Gymnasium und/oder an der Grundschule unterrichten. Jene, die „unbedingt im Beruf Lehrer arbeiten möchten“ und sich „einen anderen Beruf kaum vorstellen“ können, möchten zu 0% (in Worten: „null Prozent“) an Gesamtschulen, Sekundarschulen, Primusschulen unterrichten, aber zu 58% am Gymnasium, 36% Grundschule, 4% Realschule, 0% Hauptschule und 2% Förderschule. Weil sie Gesamtschule und Sekundarschule nicht kennen? Die Erklärung scheidet aus, weil es früher genug Gymnasiasten an Hauptschulen und Realschulen gezogen hat. Oder spiegelt sich in diesen Zahlen der Trend unserer Ergebnisse – weg von den Schwierigkeiten? Hin zu einem geregelten Klientel, das sich zu benehmen weiß?

Unser Gastautor
Der Psychologie-Professor Rainer Dollase gehört zu den renommiertesten Bildungswissenschaftlern in Deutschland. Foto: privat
Der Psychologie-Professor Rainer Dollase gehört zu den renommiertesten Bildungswissenschaftlern in Deutschland. Foto: privat

Dr. Rainer Dollase war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2008 Professor in der Abteilung Psychologie und am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld.

Die Vorschulerziehung stellte dabei einen seiner Arbeits- und Veröffentlichungsschwerpunkte dar. Später hat er sich einen Namen in der G8/G9-Debatte gemacht – als wortgewaltiger Gegner des Turbo-Abiturs. Dollase war Mitglied des Teams „Schule und Kultur“ der nordrhein-westfälischen CDU im Vorfeld der Landtagswahl 2017.

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February 12, 2023 at 10:29AM