Überholt, unflexibel, ungerecht

Mark Rackles: Die Strukturierung der Arbeitszeit nach Unterrichtsstunden stammt aus der Kaiserzeit und wird dem heutigen Lehrkräfteberuf nicht gerecht. Dieses Modell führt zu sehr viel nicht erfasster Mehrarbeit, da Aufgaben wie Vor- und Nachbereitung, Administration oder Elternkommunikation nicht abgebildet werden. Es ist außerdem unflexibel, weil für jede Sonderaufgabe, die Lehrkräfte übernehmen, Unterrichtsstunden gekürzt werden müssen. Und es ist ungerecht, weil es nicht zwischen Fächern differenziert. Lehrkräfte in Fächern mit hohem Arbeitsaufwand werden dadurch benachteiligt.

Mark Rackles ist Bildungsberater und war bis 2019 Staatssekretär für Bildung im Senat von Berlin. Im April 2023 verfasste er im Auftrag der Deutschen Telekom Stiftung die Expertise "Lehrkräftearbeitszeit in Deutschland". 

Zum einen kann es sich negativ auf die Lernqualität auswirken, wenn Lehrkräfte dauerhaft überfordert und im Stress sind. Erhebungen zeigen, dass die reale Arbeitszeit vieler Lehrkräfte bei rund 50 Stunden pro Woche liegt. Das ist einer der Gründe, warum in Deutschland so viele Lehrkräfte in Teilzeit arbeiten – sie verringern ihre Deputatsstunden auf ein Maß, bei dem sie genug Zeit für Vor- und Nachbereitung haben, damit sie guten Unterricht gewährleisten können. Bei einem besseren Arbeitszeitmodell könnten Lehrkräfte leichter in Vollzeit arbeiten.

Wie könnte ein besseres Modell aussehen?

Im Idealfall so, dass eine feste Jahresarbeitszeit nach Abzug der Ferien und Wochenenden in Wochenstunden je Unterrichtswoche umgerechnet wird. Zudem müssen die Tätigkeiten der Lehrkräfte fest definiert werden. Ziel ist, dass die gesamte Arbeitszeit – nicht nur die Unterrichtszeit – transparent erfasst und zugewiesen wird. Auch die Arbeitszeit zu Hause muss erfasst und Überstunden vergütet oder abgegolten werden, wie in allen anderen Berufen auch. Dies wird unausweichlich sein, da sowohl der Europäische Gerichtshof als auch das Bundesarbeitsgericht in den letzten Jahren die fehlende Arbeitszeiterfassung für Lehrkräfte bemängelt haben.

Das würde zu einem noch größeren Bedarf an Lehrkräften führen.

Kurzfristig ja. Allein um die derzeit geleisteten Überstunden auszugleichen, müssten rund 25 000 bis 30 000 Lehrkräfte mehr eingestellt werden. Mittel- und langfristig würde ein modernes Arbeitszeitmodell die Attraktivität des Berufes aber erhöhen. Andere Länder wie die Schweiz oder Dänemark machen es bereits so. Auch in Hamburg wurde das Arbeitszeitmodell bereits in dieser Richtung reformiert.

Wie optimistisch sind Sie, dass sich ein moderneres Arbeitszeitmodell bundesweit umsetzen lässt?

Das deutsche Bildungssystem ist schwerfällig. Dennoch entsteht durch die Rechtsprechung derzeit ein Handlungsdruck. Wird eine Arbeitszeiterfassung im bestehenden Deputatsmodell umgesetzt, dann werden die Defizite dieses Modells offensichtlich. Ideal wäre es, wenn die Länder sich in der Kultusministerkonferenz auf eine gemeinsame Reform einigen. Bis dahin sollten Schulen neue Arbeitszeitmodelle in Pilotprojekten testen – ich weiß, dass viele Schulen daran gerne teilnehmen würden.


Dieses Interview ist zuerst im didacta Magazin Ausgabe 4/2023, S. 32-33 erschienen. https://avr-emags.de/emags/didacta/didacta_4_2023/#0



Title: Überholt, unflexibel, ungerecht
URL: https://bildungsklick.de//schule/detail/ueberholt-unflexibel-ungerecht
Source: bildungsklick.de – macht Bildung zum Thema
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Date: January 2, 2024 at 02:52PM
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