Wie Schulen sich entwickeln: das Problem der systemischen Abhängigkeit

Kürzlich habe ich mich sehr über eine Boulevard-Schlagzeile gefreut: Dort hat die Vorsteherin des wichtigsten Schweizer Verbands für Lehrpersonen, Dagmar Rösler, deutlich gemacht, dass es aus ihrer Sicht Zeit ist, von Noten abzurücken.

Gerade in Bezug auf Gymnasien, die in der Schweiz in einer Krise stecken, bin ich fest davon überzeugt, dass die Abschaffung von Noten viele positive Auswirkungen hätte. Könnten und dürften Lehrpersonen keine Noten mehr geben, dann würden sie ihren Unterricht so optimieren, dass er in den meisten Fällen besser würde. Dasselbe gilt für Schüler:innen – auch sie würden ohne Noten den Fokus auf das legen, was ihr Lernen voranbringt und weniger Studenting betreiben.

Diese Zuspitzung blendet aber einen wichtigen Zusammenhang aus: Schulentwicklung ist komplex, weil unterschiedliche Aspekte von Schule miteinander verbunden sind und auch unerwartete, paradoxe Effekte auslösen können. Wenn wir bei den Noten bleiben, dann stellt sich ja sofort die Frage nach den Alternativen. Diese beantworte ich zuweilen salopp so, dass es keine braucht: Noten sind unnötig. Nur: Das bedeutet dann bei einigen Lehrpersonen, dass sie Schüler:innen gar kein Feedback mehr geben würden. Ohne Noten und Prüfungen könnte es sogar sein, dass es kaum mehr Schüler:innenaktivitäten gäbe, Unterricht wäre dann eine Art Plauderstunde einer Lehrperson, die Schüler:innen über sich ergehen lassen, weil sie davon kaum betroffen sind. Was wiederum heißt: Ohne Noten würden bestimmte Formen von Unterricht schlechter, als sie es heute sind.

Lehrpersonen fragen etwa zurecht, woher sie die Zeit nehmen sollen, die aufwändigere Formen von Feedback erfordern, wie sie individuell auf Lernprozesse von Schüler:innen eingehen sollen. Beurteilung und Feedback sind also auch abhängig von der Arbeitszeit von Lehrpersonen, vom Betreuungsverhältnis. Das ist eine Selbstverständlichkeit, die aber immer wieder betont werden muss: Gute Schulen gibt es nur mit guten Arbeitsbedingungen und guten Betreuungsverhältnissen.

Das ist nur ein Beispiel: Auch das System des Fachunterrichts müsste hinterfragt werden, was wiederum mit den Anstellungen von Lehrpersonen zusammenhängt, die in einer idealen Schule nicht an bestimmte Fächer geknüpft wäre, sondern ganzheitlich mit verschiedenen Arbeitsformen an Schulen verbunden wäre. Weiter hängt die Führung von Lehrpersonen mit alldem zusammen, die Frage, wer sie bei einer Entwicklung begleitet, wer etwas von ihnen einfordert etc.

All das betrifft jede Form von Schulentwicklung, gerade auch Aspekte der Digitalität. Jede Massnahme löst systemische Effekte aus, die bedacht werden müssen. Menschen agieren in komplexen Systemen, ihre Handlungen sind an unterschiedliche Bedingungen geknüpft – es gibt nie eine Ursache und einen Effekt, sondern verschiedene Ursachen rufen unterschiedliche und auch widersprüchliche Effekte hervor.


Title: Wie Schulen sich entwickeln: das Problem der systemischen Abhängigkeit
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Source: SCH ::: Schule Social Media
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Date: February 29, 2024 at 11:24AM
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