A-Z | Unser Autor weiß alles über Lehrer – er war 32 Jahre lang selbst einer

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Mit Kreide, Smartboards und Cordhosen kennt sich Joachim Feldmann aus, er war 32 Jahre Deutsch- und Englischlehrer. Jetzt geht er in Rente – und erklärt uns seine Spezies in diesem Lexikon

Unser Autor weiß alles über Lehrer – er war 32 Jahre lang selbst einer

A

Abschreiben Bei Lehrkräften der alten Schule beliebtes Disziplinierungsmittel. Herr B. zum Beispiel, Gymnasiallehrer für Latein und Sport, ließ all jene Unglücksraben, die ihre Lateinvokabeln nicht ordentlich gelernt hatten, gern den neuen Wortschatz der gesamten Lektion dreimal abschreiben. Die Erkenntnis, dass diese häusliche Fleißübung nur geringen Lerneffekt hat, ist inzwischen pädagogisches Allgemeinwissen. Nicht aus der Mode gekommen hingegen ist das bei Klassenarbeiten gerne praktizierte Abschreiben vom Nachbarn oder vom geschickt getarnten Handydisplay. Da nützt auch die beste Aufsicht nichts, geschummelt wird wie eh und je. Schließlich geht es um gute ➝ Zensuren und damit um Karrierechancen. So lernt man fürs Leben. Prominente akademische Plagiatoren der letzten Jahre, die sich unglücklicherweise haben erwischen lassen, können ein Lied davon singen. Die richtig angewandte Software ist eben effektiver als die beste Klausuraufsicht.

C

Cordhose Eine der beliebten Listen, mit denen Abschlussjahrgänge ihre „Abi-Bücher“ füllen, widmet sich der Kleidung des Lehrkörpers. Hier einen der vorderen Plätze zu erringen, scheint nicht schwer zu sein. Verzicht auf Sandalen, Gesundheitsschuhe und ausgebeulte Sakkos ist offenbar ausreichend, um zum „bestgekleideten Lehrer“ gekürt zu werden. Auch die Cordhose zählt zu jenen Textilien, die sich unabhängig von jedem Modetrend konstanter Beliebtheit beim pädagogischen Personal sogenannter höherer Schulen erfreuen. Ein solches Beinkleid ist schon deshalb praktisch, weil es, sobald man den Kreidestaub abgeklopft hat, fast wie neu aussieht. So will es zumindest das Klischee. Kein Wunder, dass die Lübecker Nachrichten einen Artikel über die ➝ Digitalisierung der Schulen mit dem ungemein originellen Motto „Laptop und Cordhose“ versahen.

D

Digitalisierung Seit vielen Jahren ein Heilsversprechen. Wunderbar lassen sich an sogenannten Smartboards komplexe Lernvorgänge initiieren, die von hochmotivierten Schülerinnen und Schülern an ihren Endgeräten individuell umgesetzt werden. Ein früher Prophet der Digitalisierung meinte gar, so lerne man doppelt so viel in der halben Zeit. Der Lehrer werde zum Coach oder auch zum Berater in lebenspraktischen Fragen. Aber will er das auch sein? Gerade für ältere Kolleg:innen, denen die Tafelbildentwürfe ihres Referendariats ein wertvoller didaktischer Fundus sind, ist Digitalisierung ein Stichwort des Grauens. Nicht nur, weil die teuren Geräte, die Wandtafel und Kreide ersetzen sollen, nicht immer so funktionieren wie vom Hersteller versprochen.Selbst wenn technisch alles klappt, bleiben grundsätzliche Zweifel. Selbstorganisiertes Lernen, der Traum aller Reformpädagogik, gelingt, wie der verordnete Distanzunterricht im ersten Jahr der Corona-Pandemie gezeigt hat, nur selten. Und irgendjemand muss all das, was die jungen Menschen an ihren Laptops produzieren, ja auch nachsehen. Natürlich ihre Lehrerinnen und Lehrer.

E

Elternsprechtag Sie kommen im Fünf-Minuten-Takt. Allein, zu zweit oder zu dritt. Elternsprechtag heißt die nervenaufreibende Veranstaltung nur noch umgangssprachlich. Oft reicht die Zeit nicht. Vor allem, wenn die Empörung groß ist. Ein fremdes Urteil über das eigene Kind zu akzeptieren, ist nicht immer leicht. Zumal es um lebensentscheidende Dinge geht. Reichen die Noten fürs Gymnasium? Oder für ein Medizinstudium? Hat die Person mit dem Notenbüchlein in der Hand eigentlich selbst Kinder? Weiß sie eigentlich, was ihre ➝ Zensuren anrichten? Es wird um Sachlichkeit gebeten, nicht immer mit Erfolg. Ein Anwalt werde nun die Sache in die Hand nehmen, heißt es dann.

F

Fack ju Göhte Von der Feuerzangenbowle über die Pauker-Filme der 1960er und 1970er bis zur Gesamtschulposse Fack ju Göhte – die Schule und ihr Personal sind ein unerschöpflicher Quell der Heiterkeit. Skurrile Typen bevölkern die Lehrerzimmer, aber gelegentlich bringen coole Jungpädagogen Schwung ins verstaubte Lernlabyrinth. Ein perfides Beispiel ist der stramme Nazilehrer aus der Feuerzangenbowle, ein anderes ein harmloser Peter Alexander als Reporter, der sich zur Recherche in die Schule einschmuggelt. Und dass sich der als Aushilfslehrer getarnte Bankräuber (Elyas M’Barek) in Fack ju Göhte als pädagogisches Naturtalent erweist, versteht sich von selbst.

G

Gymnasium Vor fast 60 Jahren wurde mit dem Hamburger Abkommen das Schulsystem in der damaligen Bundesrepublik vereinheitlicht. Grund- und Hauptschulen ersetzten die Volksschule, Realschulen und Gymnasien blieben bestehen. Schon der Name lässt erkennen, welche Schulform die meisten Kinder aufnehmen sollte. Doch der Plan schlug fehl. Bereits Ende der 1970er Jahre galt „Hauptschüler“ als Schimpfwort. Schon bald war von der „Restschule“ die Rede, während das Gymnasium zur populärsten weiterführenden Schule aufstieg. Denn ohne Abitur, so meinten viele Eltern, sei ein verpfuschtes Leben vorprogrammiert (➝ Elternsprechtag). Der gymnasiale Lehrkörper zeigte sich zunächst wenig begeistert. Manch Oberstudienrat meinte schon in Klasse 5 erkennen zu können, wer für höheres Bildungsgut geeignet sei. Aber lange wurde nicht gemurrt, denn höhere Schülerzahlen bedeuteten auch mehr Lehrerstellen.

L

Lehrermangel Die Boomer-Generation wird sich erinnern: bis zu 50 Kinder in einer Grundschulklasse und später statt einer Chemienote der Hinweis „Wegen Lehrermangels nicht erteilt“ auf dem Zeugnis. Die Bildungsexpansion der 1960er Jahre fand ohne das notwendige Personal statt. Aber es sollte nicht lange dauern, da kehrte sich die Lage um. Die geburtenstarken Jahrgänge strömten an die Universitäten und studierten „auf Lehramt“, um sich, kaum war das Staatsexamen abgelegt, nach beruflichen Alternativen umzusehen. Denn ab 1980 sanken die Einstellungschancen rapide. Auf den Lehrermangel folgte die „Lehrerschwemme“. Und so ging es weiter. „Schweinezyklus“ nennt das die Agrarökonomie. Eine sinnvolle Personalplanung scheint die Kultusbürokratie zu überfordern. Schließlich dauert ein Lehramtsstudium einschließlich Referendariat mindestens sechs Jahre, so lange ist keine Schulministerin im Amt. Also wird weitergewurschtelt. Und die Krise nimmt kein Ende.

M

Mittagsschlaf Es ist lange her und kaum noch wahr. Einst dauerte die Schule von Montag bis Samstag, und spätestens um 14 Uhr fand der Unterricht sein Ende. Der beliebte Spott, Lehrer hätten vormittags recht und nachmittags frei, scheint im Rückblick nicht ganz unberechtigt. Auf das Mittagessen folgte ein Nickerchen auf der Couch, bevor nach einer Kaffeepause eher widerwillig der ➝ Rotstift ergriffen wurde. Korrekturen waren schon immer lästig. Heute ist der Sonnabend frei, dafür gibt es Nachmittagsunterricht und jede Menge Dienstbesprechungen. An erholsamen Mittagsschlaf ist kaum zu denken. Stattdessen verfügen manche Lehrerzimmer über Kaffeeautomaten, Massagesessel und Fitnessgeräte. Korrigiert wird am Wochenende.

O

Oberstudienrat Erich Frister, dem legendären Vorsitzenden der Lehrergewerkschaft GEW, wird der Spruch zugeschrieben, Sinn und Zweck der Gesamtschule sei nicht zuletzt, dass auch Hauptschullehrer nach A 13 besoldet werden könnten, also wie Studienräte am ➝Gymnasium. Festzustellen, wie realistisch der Gedanke war, wäre ein interessantes Projekt für die empirische Bildungsforschung. Da ließe sich auch gleich prüfen, inwieweit ein Beamtentitel den Habitus seiner Träger beeinflusst. Und ob die Beförderung zum Oberstudienrat zu Verhaltensänderungen führt. Früher hieß es: „Kommt Zeit, kommt Rat, kommt Oberrat.“ Heute muss man ein aufwendiges Bewerbungsverfahren absolvieren, um in eine höhere Besoldungsgruppe aufzusteigen.

R

Rotstift Traditionsbewusste Lehrer:innen benutzen wahrscheinlich noch immer einen Füllfederhalter mit roter Tinte. Beliebter sind sogenannte Fineliner für 80 Cent das Stück. Wer mit zwei Korrekturfächern gesegnet ist, dürfte im Laufe seines Berufslebens einige hundert Euro für Rotstifte ausgeben. Anders als landläufig vermutet, macht das Anstreichen von Fehlern keine Freude. Im Gegenteil: Es zermürbt. Zumal die Adressaten der Randbemerkungen und Kommentare diese kaum zur Kenntnis nehmen. Was zählt, ist die ➝ Zensur unter der Arbeit. Rot schreckt ab. Ob allerdings Korrekturen in Regenbogenfarben, von denen in Lehrerforen zu lesen ist, die Lage verbessern würden, lässt sich bezweifeln.

X

Xylofon Sport, Kunst und Musik: Fächer, in denen sich individuelle Talente von ihrer besten Seite zeigen können. Wenn man sie denn besitzt. Wer keinen Ton halten kann, körperliche Betätigung scheut oder Defizite bei der Feinmotorik aufweist, ist in den Händen begeisterter Sportlerinnen, ehrgeiziger Künstler und virtuoser Musikerinnen nicht immer gut aufgehoben. Hier ist Verständnis für mangelnde Motivation gefragt. Denn die lässt sich durch organisierte Erfolgserlebnisse durchaus überwinden. Wer auf dem Xylofon eine Tonfolge zustande bringt oder mit Freude auf die Pauke haut, wird vielleicht kein brillanter Instrumentalist, erfährt aber etwas über Musik, ganz im Sinne des Komponisten Carl Orff (1895 – 1982), dem wir die Ausstattung schulischer Musikräume mit wunderbaren Schlaginstrumenten zu verdanken haben. Leider macht sich auch hier der Lehrermangel bemerkbar. Fachfremder Unterricht ist keine Seltenheit, wenn die Stunden nicht gleich ganz ausfallen.

Z

Zensuren Miserable Rechtschreibung, Probleme beim Lesen und mangelndes mathematisches Verständnis: Seit 2011 befindet sich die Leistungsfähigkeit von Viertklässlern im freien Fall. Das besagen zumindest entsprechende Studien im Auftrag der Kultusministerkonferenz. Über die Ursachen wird gestritten. Rätselhaft ist allerdings auch, dass die Abiturprüfungen immer besser ausfallen. Dass an einem nordrhein-westfälischen ➝ Gymnasium mehr als ein Drittel des Abschlussjahrgangs einen Abi-Schnitt im Einserbereich aufweist, ist kein Einzelfall. Wer also schon immer an der Objektivität der Notengebung gezweifelt hat, darf sich bestätigt fühlen. Wenn es wenigstens gerecht zuginge. Aber auch das ist nur ein frommer Wunsch, wie alle, die Zensuren erteilen müssen und sich mit der Unzulänglichkeit des Systems abgefunden haben, wissen.

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August 22, 2022 at 04:08AM